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Schiele ich, oder was? (Chronicle 3)

von | 2021 | 7. März | Chronicle

Es war mal wieder spät geworden. Müde rieb sich der Brillenträger die Augen. Jeden Abend kämpfte erneut er dagegen an, kämpfte darum, nicht müde zu werden. Nicht, weil er Angst vorm Einschlafen (und wieder Aufwachen in diesem Albtraum) hatte. Sondern genau das war es doch, schrieben zumindest die Zeitungen, das im Moment die größte Gefahr war. Wäre es es nach ihm gegangen, „Pandemiemüdigkeit“ sollte doch lieber zum Unwort, als zum Wort des Jahres gewählt werden. Aber das alles war auch bloß wieder typisch, schon wieder die gleiche Leier: Nach der Empörung kam die Müdigkeit. Nach dem Krieg die Kapitulation. Weil erst dann wirklich wieder von vorne angefangen werden konnte. Nur, der Krieg war ja noch lange nicht vorbei, und außerdem war dieser Vergleich eh völlig daneben. Im Gegenteil: Inzwischen hatte es sich sogar bis zu den letzten neunmalklugen Influencern rumgesprochen, dass Öffnungen zum Beginn einer neuen Infektionswelle schlicht unlogisch waren. Mussten die jetzt also auch noch mitdiskutieren. Mussten stundenlang über „Corona-Leugner“ herziehen und das Scheitern des neuesten Personalexperiments der Bundesregierung (Spahn-Scheuer) in höchstem Hohngelächter beklatschen. Fortschritte brachte das aber: null. Außer für die Followerlisten der Influencer. Das hatte vielleicht noch Unterhaltungscharakter, war aber auch abgenutzt wie nur was. So wie die Videos mit einem Rentner in Thale, der sich auf dem letzten Gruppenspaziergang dabei filmen ließ, wie er einen Polizisten rumschubst. Ermüdend.
Der Brillenträger wunderte sich nur, dass diese Müdigkeit erst jetzt einsetzte. Er selbst war schon seit Beginn der letzten Welle müde. Müde ob dieser ewigen Diskussionen, wer denn nun am schwersten von der Krise betroffen gewesen wäre, wem als nächstes Hilfe versprochen werden sollte. Wer am meisten versagt hatte. Anstatt sich auf die Zukunft zu besinnen, wurden die Probleme der Gegenwart in endlosen Wiederholungen wieder und wieder bestaunt. Ausnahmen gab es fast keine mehr. Egal worüber geschrieben und gesprochen wurde, alles hatte sich angesteckt. Keine Bubble mehr, die nicht infiziert war. Der Blick in die Schwarzen Spiegel zeigte hinter den Buchstaben ein unrhythmisches Flimmern, dem seine Augen nur noch müde, schielend und fiebrig antworteten.

Auf dem Quedlinburger Markt aber hatte am Vormittag normales Treiben geherrscht. Gegen sieben hatten die Stände begonnen aufzubauen, zwischen acht und zwölf machten die Leute ihre Einkäufe und gingen nachmittags spazieren. Für Kugeleis war es sonnig genug. Der Brillenträger hatte Blumen kaufen wollen, gegen Mittag aber keine passenden mehr gefunden, weswegen er dann am Montag Morgen einfach in einen Blumenladen gehen wollte, das wäre noch früh genug. Kein Grund zur Sorge, alles gut.

 

„Das Idyll des ländlichen Friedens verkauft sich gut als Roman, die Realität sieht oft anders aus. Fernab der Städte schrumpfen Regionen, verschwinden Geschäfte, verfallen Häuser und vereinsamen Menschen, die sich zurückgelassen fühlen. Es klaffen dann Lücken, die Raum öffnen für Populisten, Polarisierung und Radikalisierung. Um das Land wieder zu beleben, sind neue Strukturen gefragt. Politik und Wirtschaft müssen helfen, die Bürger Initiative zeigen, Phantasie aufbringen und auch ein bisschen Mut. Dann aber können Knotenpunkte wachsen, die eine Gesellschaft verbinden: dritte Orte, die soziale Strahlkraft besitzen.“

(Diana Kinnert: Die neue Einsamkeit. 2021.)

 

Am Nachmittag hatte er sich aus dem Buchladen noch den neuesten Schrei mitgebracht und bis zum Sonnenuntergang ausführlich darin rumgeblättert. Wenn das alles so stimmen sollte, dann wusste der Brillenträger wirklich nicht mehr, warum sich alle noch fragten, was eigentlich gerade wirklich abging. Gefühlt hatte er darin noch nichts gefunden, das ihm wirklich neu erschien. Trotzdem fand er dieses Buch längst überfällig. Vielleicht zu sehr Berliner Republik, aber in der Sache nun mal völlig treffend. Außer eben in diesem einen Punkt: Die erträumten Knotenpunkte, die eine Gesellschaft wirklich verbinden, die zeigen wie es auch geht, die gab es doch bereits. Denn zwischen Großstadt und ländlicher Idylle liegen die Kleinstädte. Da, wo die meisten Leute noch mehr Freunde als Likes haben. Wo man diese aber, genau wie überall auch, im Moment nicht ohne größeren Aufwand treffen konnte, von Partys oder ähnlichem ganz zu schweigen. Auch in den Kleinstädten hatten die Theater zu. Auch in den Kleinstädten standen die Kinos vor dem Nichts. Auch in Kleinstädten waren die Schulen monatelang geschlossen. Auch in Kleinstädten waren die Menschen einsam. Auch in Kleinstädten starben sie.
Und auch in Kleinstädten ging das Leben trotzdem weiter. Sparsamkeit war hier nicht nur eine Phrase. Man kam zurecht, man ließ sich etwas einfallen. Man kümmerte sich umeinander. Man stand mit am Grab. Man half den Kindern so gut es ging bei den Hausaufgaben. Und ging mit ihnen in die kleinsten Kinosäle der Stadt. Für vieles gab es viele Lösungen. Die Leute konnten nicht ins Theater? Dann kam das Theater eben zu ihnen! Günstigerweise in Gestalt einer telegenen Praktikantin, die in einer groovy behind-the-scenes Videoreihe für Social Media den Leuten zeigte, wie Theater eigentlich funktioniert hatte, damals, vor der Pandemie. Nostalgisch und selbstironisch. Ganz modernes Theater eben. Umsonst im Internet. Nur Hingehen, mit anderen mal was anderes machen, das lag noch in einiger Ferne.
Deswegen hatte sich der Brillenträger für diesen langen Samstagabend vorgenommen, weiter an seiner Idee zu feilen, irgendwie doch vielleicht schon mal anzufangen, diesen Roman über die Goldenen Zwanziger demnächst schreiben zu wollen. Weil sich der Doppelgänger seit dem Jahreswechsel noch nicht wieder gemeldet hatte, und somit auch das schwer vermisste und einzigartige Recherchewerk immer noch nicht wieder aufgetaucht war, bedeutete das aber auch noch mehr Stunden vor dem Bildschirm seines Rechners, welche sich dann auch noch als ziemlich unergiebig herausstellten. Über die Theaterlandschaft im Quedlinburg des Jahres 1921 konnte er, zum Beispiel, nicht viel finden. Es hatte damals zwar bereits seit fast 40 Jahren ein Schauspielhaus gegeben, dieses war aber ohne festes Ensemble und mehr Hotel und Gastronomie als Bühne. Was dort gegeben wurde, das hätte er vielleicht in den Stadtarchiven erfahren können, aber bis die wieder geöffnet wurden, verging noch einige Zeit. Zum Bergtheater in Thale allerdings fand er deutlich mehr. Und wenig überraschendes, wenn auch bedrückendes: Der Spielplan war seit seiner Gründung im Sommer 1903 dem Völkischen treu geblieben und richtete sich nach dem Ersten Weltkrieg gerade neu aus. Die Zeiten der Grünen Bühne und des internationalen Ruhms sollten erst einige Jahre später kommen, erneut gefolgt vom Völkischen. Die Zwanziger halt.
Wenn es also dazu nicht viel zu finden gab, dann nutzte der Brillenträger die Zeit, ein bisschen zur NSDAP zu recherchieren, nicht ganz unwichtig für seinen Roman, war doch 1921 das Jahr, in dem Hitler die Partei an sich gerissen hatte. Aber auch das passierte erst im Sommer des Jahres. Dabei hätte es für eine Gegenüberstellung so gut gepasst, und wäre eine gelungene Überleitung zurück zur Erzählzeit gewesen, gab es doch gerade wieder eine rechtsextreme Partei, die um Wählerstimmen kämpfte und jetzt von V-Männern unterwandert werden durfte. Die Frage war, ob auch dieses Mal einer von denen den Irrsinn besitzen würde, das ganze mal wieder diktatorisch aufzuziehen.
Nach zwei bis drei Stunden Durchscrollen bekam der Brillenträger eckige Augen. Nazis als Thema waren unumgänglich, aber für heute war er müde genug. Seine Notizen sortierte er oberflächlich und wollte gerade den Bildschirm zuklappen, um die letzte halbe Stunde des Tages noch abseits der Buchstaben zu verbringen, als er bemerkte, dass er den Tab mit seinem E-Mail-Provider noch nicht geschlossen hatte. Die 1 in der kleinen Klammer am oberen Bildschirmrand war vor einigen Minuten noch nicht da gewesen. Wahrscheinlich aber eh nur Werbung. Jetzt hatte er aber schon so lange am Schreibtisch gesessen, da machten die paar Klicks auch nichts mehr aus, und er bräuchte sich morgen nicht mehr darüber zu wundern.
Der Name des Absenders aber ließ ihn sofort wieder hellwach werden: doppelgänger19_29(at)diedoppeltenzwanziger.de – Wie konnte das sein? Er kannte die Adresse zwar, aber bis jetzt hatte immer nur der Buchträger Nachrichten erhalten, und er wollte nicht unhöflich sein und sich einfach auf eigene Faust melden. So sehr es ihm auch unter den Fingern gebrannt hatte. Die Mails des Doppelgängers hatten bisher nicht den Eindruck gemacht, als ob da jemand großen Wert auf Drängler legte. Umso begieriger begann er jetzt zu lesen: Guten Abend, ich war so frei, mir vorhin von Ihrem Bekannten Ihre Mailadresse geben zu lassen. Ich hoffe, Sie können Ihm diese Unanständigkeit verzeihen. So wie Ihm, möchte ich auch Ihnen persönlich mitteilen, dass sich mein geplanter Besuch in Quedlinburg noch einige Wochen verschieben wird. Ich ahne, wie sehr Sie darauf warten, das von Ihnen gesuchte Buch wieder in den Händen halten zu können. Weshalb sich das auch nach unserem Treffen anders gestalten wird, als Sie sich das gerade vorstellen, das werden sie dann verstehen. Denn um es jetzt schon zu erkennen, dazu fehlen Ihnen noch einige Puzzleteile. Ich weiß, ich spanne Sie auf die Folter, aber irgendwie habe ich das Gefühl, erst wirklich sicher sein zu müssen, dass Sie und Ihr Bekannter die richtigen sind, um mein Manuskript zu bewahren. Als kleine Entschädigung schicke ich Ihnen hiermit einen kleinen Ausschnitt, um das Warten zu verkürzen. Ich melde mich wieder, wenn ich die Reise in den Harz antrete, noch werde ich hier in Berlin gebraucht, die Zukunft macht sich nicht von allein. Bleiben Sie gesund!

Im Anhang der Mail fand der Brillenträger eine .pdf-Datei. Drei fotografierte Seiten, vollgeschrieben im Flattersatz einer ungewöhnlich schön geschwungenen Handschrift. Nach einigen Zeilen erinnerte er sich, dass er die Worte kannte. Konnte das wirklich das original Manuskript sein? Sein Handy summte, der Buchträger: „Hast Du die Mail bekommen? Krass schon wieder, oder?“ Der Brillenträger schrieb nur kurz zurück: „Fakt. Lese gerade. Melde mich wieder“, dann begann er erneut ungläubig die Seiten auf seinem Bildschirm zu bestaunen, so lange bis er alles nur noch doppelt sah:

 

6. und 7. März 1921

Babylon Münzenberg 57 – Nelken sind rot

Überall tobt der Frühling!
Alles erinnert an das letzte Jahr.
Nur die Wahlplakate sind
noch nicht wieder abgenommen.
Die unrühmlichen Streiks
in Halle und im Mansfelder Land
seit dem Lüttwitz-Kapp-Putsch vor einem Jahr
haben die Wende gebracht:
Im Wahlkreis Halle-Merseburg ist die KPD
stärkste Kraft: 29%!
Und aus dem Stand mit über 7%
im preußischen Landtag.
Der SPD schlottern die Knie,
ihre Mehrheit ist in Gefahr.
In Sachsen machen sie sich Sorgen
weil noch zu viele Waffen
in den Händen der Arbeiter vermutet werden.

In den Betrieben geht das Gerücht um,
es solle einen Anschlag
auf die Siegessäule in Berlin geben.
In den Betrieben geht die Angst um,
dass bald „Ordnung und Sicherheit“
wieder hergestellt werden.
In den Betrieben geht aber auch
die Rote Fahne um:
Die Arbeiter rüsten sich
zum nächsten Generalstreik.
Der Frühling im dritten Jahr
nach der Katastrophe
ist immer noch fragil.

Hier, in der Beschaulichkeit,
geht das Leben weiter seinen Gang,
der Bärlauch pflückt sich nicht von allein.
Die Menschen haben wieder Ruhe zum Lesen,
der Laden läuft zusehens besser,
und feiert in diesem Jahr seinen 40. Geburtstag.
Alle sind furchtbar aufgeregt.
Besonders Zeitungen sind gefragt,
alle wollen wissen, wie es weitergeht.
Die Blumenläden sind ab morgen prall gefüllt,
der Internationale Frauentag wird 10 Jahre alt!
Dass wirklich überall der Frühling Einzug hält,
zeigt ein Telegramm aus der Schweiz:
Gestern wurde in Zürich,
im Gewerkschaftshaus „Eintracht“,
die Kommunistische Partei der Schweiz (KPS) gegründet.
Der Vorstand besteht auch dort
aus vielen ehemaligen Sozialdemokraten.
Die Erben von Rosa und Karl
bleiben aufrecht.
Nach über einem Jahr Trauer,
raffen sie sich wieder zusammen.
Gestern, zu Rosas 50. Geburtstag,
waren sogar hier auf dem Markt
nur rote Nelken zu sehen.

Wie die Zeit vergeht,
wenn es Frühling wird!
Alles neu,
und doch so vertraut.
Seit über einem Jahr nun schon
schreibe ich an diesen Seiten,
ohne zu wissen,
ob sie je jemand lesen wird.

Sei‘s drum,
neben der Arbeit genieße ich die Ruhe
und nehme mir die Zeit,
dieses neue Jahrzehnt
zu verstehen.
In Wien hätt sich des net so ausgenommen,
und ich bereue meine Flucht
keinen einzigen Tag.
Die Kontakte sind wieder hergestellt,
die Arbeit an der Zukunft kann beginnen:
Berlin, bald ist es soweit!

 

Am Sonntag Nachmittag hatte der Brillenträger diese Seiten gefühlt zum zwanzigsten Mal gelesen. Wie anders, und doch wie gleich alles schien. Besonders die letzte Seite las er wieder und wieder, da er sich noch gut erinnerte, dass in diesem Buch eher selten etwas über den Autoren stand. Zu spärlich waren die Sätze gestreut, um sich wirklich einen Reim auf ihren Verfasser machen zu können. Wien wurde mehrfach erwähnt, wahrscheinlich der Studienort, sogar von der „Fackel“ war ab und an die Rede, einmal dachte er einen Mitarbeiter der zugehörigen Druckerei zu erkennen, war sich aber nie sicher. Wie es den Doppelgänger nach Quedlinburg verschlagen hatte, blieb im Dunkeln. Fest stand, dass er in einem Buchladen der Stadt gearbeitet haben musste, vermutlich seit Anfang 1919. Aber auch so gab er zwischen den Zeilen viel zu erkennen, mehr vielleicht als das in einem Roman möglich gewesen wäre.
Der Brillenträger riss sich erneut los. Der Sonntag war bald um, und die kommende Woche konnte noch etwas Planung vertragen. Da der Kaffee noch für die nächsten vier Wochen im Schrank warten musste, behalf er sich mit Tee, das Fasten nahm er seit einigen Jahren ernst, Geduld wollte geschult bleiben. In der Küche fand er sein Handy, der Buchträger hatte bereits fünf mal angerufen und drei Nachrichten geschickt: „Heute Zeit für Videocall?“, „Könnte so ab 1500“ und „Alter, jetzt sag mir nich, Du willst da nich ASAP drüber reden!“ In diesem Moment ging unangekündigt der nächste Videocall ein. Der Brillenträger stellte den heißen Tee ab und rückte sich den Aschenbecher zurecht, bevor er annahm: „Ja doch! Cold Calling is so 2020, ey!“
Der Buchträger winkte überschwänglich: „Endlich! Und? Was sagste?“
„Wieso ich? Du hast doch grad zum ersten Mal was aus dem Buch gelesen.“
„Und? Ist es das überhaupt?“
„Ich denke ja, obwohl es schräg ist, das in Handschrift zu lesen. Aber ja, eindeutig. Der Stil ist einfach schwer zu verwechseln.“
„Krass. Und so geht das über 2000 Seiten?“
„Ja, auch wenn ich vielleicht nicht jede davon Wort für Wort und, wie gesagt, den Schluss noch nicht gelesen hatte, als es ins Wasser gefallen war.“
„Ok, aber sag mal, bist Du sicher, dass das ein Mann geschrieben hat?“
„Was meinst Du? Auf dem Umschlag stand Orlando Wolff, ist das nicht männlich?“
„Dir ist klar, dass das ein Pseudonym sein muss?“
„Ja schon, aber … meinst Du?“
„Ja, nee, is nur so ein Gefühl. Ach, was ich Dir noch erzählen muss: Ich glaube, gestern Mittag war des Pärchen wieder hier.“
„Die seltsamen Vögel?“
„Ja, aber sie hatten dieses Mal ganz andere Kostüme an. Ich hab ihn nur an seinem Tatrich erkannt. Die haben sich die nächsten beiden Bände von „Babylon Berlin“ gekauft und sich nach der hiesigen Theaterlandschaft erkundigt.“
„Das ist ja nicht sehr verdächtig.“
„Ihre Sonnenbrille war das schon! Na, ich hab ihnen dann den Link mit der letzten Lesung geschickt, die das Nordharzer online gestellt hat.“
„RhabarberBarbaraBarBarbarenBarbierBier?“
„Haste also auch schon gesehen?“
„Ja, war wirklich gut. Und, was haben sie gesagt?“
„Haben sich nur humorlos angeschaut und mir ein gutes Wochenende gewünscht. Ich hab das Gefühl, die haben wir nicht zum letzten Mal gesehen.“
„Was du so alles fühlst. Du, nichts für ungut, aber ich muss noch was schaffen heute. Wer schreibt ihm zurück?“
„Oder ihr?“
„Oder so. Also?“
„Na, er, sie hat uns beiden geschrieben, also schreiben wir beide zurück.“
„Deal. Ich meld mich die Woche. Dann können wir ja mal über den aktuellen Zustand der heutigen SPD reden, und ob die Linke die 7% schafft im Herbst.“
„Ja, oder wir machen mal was anderes, Spazierengehen zum Beispiel.“
„Super Idee, endlich mal was fresches!“
„Is halt Frühling, ne?“
„Isses. Also mach‘s gut!“
Der Buchträger winkte erneut etwas zu übertrieben, und bevor der Bildschirm schwarz wurde, erkannte der Brillenträger, dass der Anruf offensichtlich aus dem Laden kam, an einem Sonntag.

Auch der Buchträger wollte gut vorbereitet sein. Ab Morgen hatten auch alle anderen Buchläden im Land wieder geöffnet, außer denen in den Einkaufsmeilen. Die großen Ketten zeterten immer lauter, die kleinen Läden warteten derweil auf die noch ausbleibende Laufkundschaft, hatten sich aber fein rausgeputzt. Da wollte er nicht hinten anstehen. Bis in die späten Abendstunden staubte er durch, rückte gerade, sortierte um und ein, gestern war eine größere Lieferung mit Neuerscheinungen eingetroffen, das Frühlingsgeschäft war eröffnet. Unzählige Bände liefen durch seine Hände, und die Schwermut ob all dieser verpassten Geschichten wuchs von Stunde zu Stunde. Dazu passte, dass die Umschlagfarbe der Saison, wie schon im letzten Jahr, ein blutiges Rot war. Erst gegen 10 Uhr am Abend stellte er das letzte Buch ins Schaufenster, bevor er den Laden abschloss. Von außen leuchtete in kräftigem Rosa in der Mitte der Auslage, eine Neuerscheinung, wahrscheinlich kein Bestseller, aber gefühlt passend wie lange nicht: „Die Nelke. Eine Blume macht Geschichte.“ Der hoffnungsvolle Blick des Buchträgers spiegelte sich im Schaufenster. Hinter ihm leuchteten die Fassaden im Orange der Laternen, und die kalte Nachtluft trieb ihn nach Hause. Unter dem Arm trug er ein weiteres Exemplar des ausgestellten Buches, vielleicht war es ja dasjenige, das ihn endlich wieder zum Lesen veranlassen konnte.

„This paper trail
leads right back to you.
You say you need me
to step outside.
You spent the evening
unpacking books from boxes.
You passed me up
so as not to break
a promise.“

(Maxïmo Park: Books from boxes. 2007.)

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