Gegenwartsliteratur.
Live.
Nur im Internet.
Aus der Provinz.

# Startseite / Die Kurzgeschichten / Sleepwalk City (S9a:Midseason Review)

Lesen

Sleepwalk City (S9a:Midseason Review)

von | 2023 | 23. September | Berliner Kurzgeschichten, Die Kurzgeschichten, Staffel 9a - Little Oblivions

 

„Wir haben
keine Revolutionen
mehr in Reserve,
um die Flucht
nach vorne
fortzusetzen.“

(Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. 1991)

 

In diesem bis dahin nächstschönsten Spätherbst des Herbstjahrzehnts des Anthropozäns entpuppte sich Berlin endgültig als die aktuelle Hauptstadt der letzten Generation vor der Apokalypse. An zwei Wochenenden in Folge machte die Stadt schon wieder international von sich reden. Zuerst machten Bilder die globale Runde, auf denen das nationaldenkmaligste Nationaldenkmal der nationaligsten Nation aller Nationen in den Farben des Feuers stand. Mit präparierten Feuerlöschern waren die Säulen des Brandenburger Tors großflächig besprüht worden. Im Sonnenuntergang, wenn die Pferde in die Nacht nach Osten reiten, bekam die Botschaft nur noch mehr Gesicht. Für den darauf folgenden Sonntag kündigte die Letzte Generation dann die Störung des Berlin-Marathons an. Sofort machten sich viele Boys im Internet Sorgen, ob diese Aktion nicht fatale Folgen haben würde und ob sowas nicht eher kontraproduktiv sei. Der simple und nur wahre Satz: „Vor der Klimakatastrophe können wir nicht davonrennen.“ (Slogan der angekündigten Aktion) war den Sorgen habenden Boys wohl nicht genug Kontext, um sich nicht nur an der (vermeintlich) dumpfen Parole zu genügen.
Der Brillenträger spürte den natürlichen Reflex, seine Interpretation der Aktion teilen zu müssen und wollte sofort irgendwas ins Internet schreiben, irgendwas wie: „Absolut geile Aktion! Selbsterklärend wie nur was! Es geht eben nicht nur um „die Autos“! Es geht um alles! Um Luftverschmutzung und Emissionen (Anreise der Renner*innen). Um Energieverschwendung und Müllproduktion (Großveranstaltung). Um Symbolik (Rennen als „Großveranstaltung“). Um Eskapismus (Rennen, nicht Stehenbleiben (oder gar umkehren), als vermeintliche Rettung).“ Aber der Brillenträger wusste, dass solche Sätze eh nur in den letzten Ecken der Blogosphäre verschimmeln würden und sparte sie sich lieber für ambitioniertere Projekte auf.

Außerdem stand ihm in der kommenden Woche eine mittelgroße Renovierung seiner Wohnung ins über fünfhundert Jahre alte Haus. Ein Grund mehr davonzurennen, vielleicht auch einfach nach Berlin. Oder nach London. Oder Paris. Oder Magdeburg, wo es inzwischen regelmäßiger Polarlichter zu sehen gab. Er dachte über ein entsprechendes Wand/Deckengrafitti nach, auf das er im aufgemöbelten Badezimmer starren könnte, während er im (endlich wieder) warmen Wannenwasser liegen würde, denn sogar seine erloschene Therme würde ausgetauscht werden, so hoffte er jedenfalls. Noch war er in der Lage, die bald wieder steigenden Gaspreise zu zahlen, und die Speicher waren voll.
Ansonsten aber war das auf sein Ende zu gehende Jahr dabei, noch schlimmer zu enden als die letzten drei der schlafwandelnd Rutschenden Zwanziger. Zum selben Zeitpunkt, als eine Klimaaktivistin zu acht Monaten Haft verurteilt wurde, kam es im Header der Tagesschau zu einem unauffälligen Wechsel. Da, wo bis eben noch „Klima“ gestanden hatte, gleich neben „Ukraine“, stand jetzt „Migration“. Mehr als zwei Dauerbrennerkrisen wurden den Interessierten noch nicht zugetraut. Da, wo vor einigen Tagen noch über den Besuch des „Green King“ (angeblich Charles III.) vor dem französischen Senat berichtet wurde, der eine neue „Entente Cordiale“ gefordert hatte, nur dieses Mal wegen des Klimas, während der britische Premierminister Sunak in London die Klimaziele weiter aufweichte, da waren jetzt Berichte aus dem Mittelmeerraum zu finden, dicht gefolgt von Berichten darüber, was irgendwelche random nicht betroffene weiter nördlich dazu dachten. Das italienische Militär war gerade dabei „spezielle Abschiebelager“ einzurichten; in Größenordnungen. Von denjenigen, die es sich leisten konnten, verlangten sie fünftausend Euro, wenn sie dort nicht landen wollten, nachdem sie es über das Meer geschafft hatten. An den Grenzen zu Deutschland konnte sich die Innenministerin, inzwischen niemanden mehr überraschend, die Rückkehr zur Schleierfahndung vorstellen. Der Bundespräsident sah sich zu einer Ansprache genötigt: Das Land sei an der Belastungsgrenze gewesen. Die Union forderte vom Kanzler eine „dringend benötigte Asylwende“ einzuleiten und der Fraktionsvize im Bundestag durfte endlich ohne Reue sagen: „Wir schaffen das nicht mehr.“ In Thüringen war sogar der linke Ministerpräsident umgekippt, sein Land war ebenfalls „am Limit“. Und in Sachsen-Anhalt fand der Landesvater nur wenig elegantere Worte: Die Überlastung schadete vor allen denen, die „wirklich Hilfe“ benötigten. Den vorläufigen Abschluss des Kurswechsels des zu vollen Bootes verkündete dann der Vizekanzler: Wir sollten uns auf „moralisch schwierige Entscheidungen“ einstellen. Das sollte es also sein, was das Land noch einen konnte: Die Einigkeit in der „Migrationsfrage“, eine latent fremdenskeptische (also nationalistische) bis offen rassistische Heimatfront quer durch die Republik. Der einstige Ruf nach Offenen Grenzen war endgültig in der Vergangenheit verhallt und das Wort „Wende“ hatte erneut die Bedeutung gewechselt.
Aber für alle die, die sich immer noch schwertaten, mit dem wieder normal gewordenen Rechtsextremismus zu liebäugeln (oder wenigstens die Augen davor zu verschließen), gab es ja auch noch gute Nachrichten. Und war es nur für ein paar Momente: Die „Hammerskins“ waren verboten worden; was die aber natürlich nur freute. Und sogar Sven Liebich, still Sachsen-Anhalts finest, verbuchte seine nächste Haftstrafe (wegen Körperverletzung) locker als Propagandaerfolg. Denn inzwischen waren es bald wirklich 10% der Deutschen, die über ein geschlossen rechtsextremes Weltbild verfügten; bis vor wenigen Jahren waren es höchstens mal 3% gewesen. Der Verfassungsschutz hatte mehr zu tun denn je. Zum Beispiel in Wienrode musste eine Gemeinderatswahl von Staatsbeamten begleitet werden, weil die Gefahr bestand, dass unwissende Dorfbewohner*innen in Kürze einen zugezogenen Rechtsextremisten zum Häuptling wählen würden. Aber noch war der Vorharz nicht das Allgäu, auch wenn es hier ebenfalls gewaltig oktoberfestete. In München nämlich flogen bereits Steine bei Bierzeltauftritten von Politiker*innen, die der Mob gelernt hatte, nicht leiden zu sollen. Deren neuer Führer, H.A., plante sogar bereits seinen Marsch auf Berlin. Wo schon seine Freunde auf ihn warteten, und nicht zuletzt die AfD, die gerade erst den dümmsten Antrag des Jahrzehnts im Bundestag eingereicht hatte: Die Aufkündigung aller Klimaschutzvereinbarungen. Faschos war die Zukunft schon immer egal.

In diesen Tagen, als nicht nur seine Nation wieder in die Barbarei schlafwandelte, verfolgten ihn die Entwicklungen immer öfter bis in seine Träume. Und während die Marktglocken an den Abenden neun, zehn, oder elf mal schlugen, plagten ihn Figuren und Visionen nicht nur der Gegenwart, sondern vor allem der Vergangenheit: Sahra Wagenknecht verteidigte sich aufs Blut gegen Anne Will und Markus Lanz. Bashar al-Assad besuchte neue Freunde in China. Benjamin Netanyahu baute Israel so um, dass es Saudi-Arabien gefallen konnte, ohne dem Iran zu ähnlich zu werden. In den Nachrichten wurde vor 20 untergetauchten Linksextremisten gewarnt. Erdogan ließ wieder Bomben fallen, wieder über Rojava. Blitzartig tauchte auch kurz ein alter Krieg auf, der jedoch schnell ein vorläufiges Ende fand: Bergkarabach war von Aserbaidschan mit einer „Anti-Terror-Operation“ erobert wurden, während die UN bei ihrer Vollversammlung über einen, wahrscheinlich profitableren Krieg berieten. Unzählige Armenier würden vertrieben oder assimiliert werden; die UN konnte sich nicht um alles kümmern. Und immer, kurz bevor der Brillenträger in den ersten tiefen Schlaf einer Nacht davonrannte, tauchte dann auch noch Elon Musk auf. Das letzte Mal auf Knien, bettelnd, dass die Ex-Twitter*innen doch jetzt bitte monatlich etwas bezahlen sollten, sonst müsste er die 44 Milliarden wohl endgültig als Verlust abschreiben. Und nur dort, im tiefsten Tiefschlaf konnte er dann wirklich endlich auch vergessen, was die meisten anderen schon lange nicht mehr als besonders dringlich empfanden. Nach einigen Stunden wachte er dann wieder auf, nur um sich erneut in einen zweiten Schlaf zu flüchten. Aus dem er dann am Morgen zurück in die Gegenwart schlurfte, Bilder von wieder steigenden Infektionskurven und Rechnungen für Impfungen schnell wieder vergessend, denn zum Frühstück warteten die letzten Nachrichten der Nacht auf ihn. Jeden Morgen, seit nun mehr zwanzig Monaten:

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 81.
Den United Nations fällt auch nichts mehr dazu ein. Montag: In der Nacht erschüttern Explosionen Sewastopol. Selenskyj vergleicht Putin mit Hitler und warnt vor dem Dritten Weltkrieg. Die Ukraine hat das nächste Dorf südlich von Bachmut eingenommen (Klischtschijiwka). Auch Stoltenberg ist jetzt für „Taurus“-Lieferungen. Russland verstärkt die brüchige Südfront mit Luftlandetruppen. Überall werden Drohnen abgeschossen. Selenskyj entlässt weitere sechs Vize-Verteidigungsminister. Die russiche Verwaltung in Donezk wird von Raketen getroffen. Pistorius kündigt das nächste Hilfspaket an (400.000.000). Selenskyj und seine Frau sind in den USA eingetroffen. Charkiw wird von russischen Raketen angegriffen. Dienstag: Selenskyj besucht ukrainische Soldaten in Staten Island. Luftalarm in der westlichen Ukraine, Lwiw wird getroffen. Lawrow stellt bei einem Treffen mit seinem chinesischen Kollegen „die Ähnlichkeit der Standpunkte der beiden Parteien in Bezug auf die Handlungen der USA auf der internationalen Bühne, einschließlich solcher von antirussischer und antichinesischer Natur“ fest. Dänemark will weitere Panzer liefern. Kupjansk wird massiv beschossen. Die Ramstein-Gruppe trifft sich erneut und redet nicht über „Taurus“-Lieferungen. Schoigu besucht den Iran. Der UK liefert zehntausende Granaten an die Ukraine. UN-Generalversammlung: Biden warnt: Niemand ist mehr sicher, wenn Russland gewinnt. Scholz fordert Russland zum Truppenabzug auf. Selenskyj wirft Russland „Genozid“ vor. Stoltenberg: „Wenn wir gerechten und dauerhaften Frieden wollen, dann ist militärische Unterstützung für die Ukraine der richtige Weg.“ Der iranische Präsident: „Die USA gießen Öl ins Feuer.“ Mittwoch: Selenskyj fordert in New York ATAMCS-Raketen. Im ukrainischen Poltawa brennt eine Ölraffinerie nach einem Angriff. Im russischen Sotschi brennt ein Öllager. Ukrainische Saboteure greifen einen russischen Militärflugplatz an. Auf der Krim schlagen Raketen ein. UN-Sicherheitsrat: Selenskyj beklagt die Machtlosigkeit der Vereinten Nationen, fordert einen ständigen Sitz Deutschlands und plädiert für den Entzug des Vetorechts Russlands. Lawrow wirft dem Westen einen „Überlegenheitskomplex“ vor. Im Osten der Ukraine töten russische Raketen mehrere Zivilisten. Donnerstag: Drohnenabschüsse über der Krim und Cherson, nächtliche Angriffe auf Kiew, Charkiw und die Zentralukraine, die Energieinfrastruktur ist das Hauptziel. Scholz und Selenskyj werden mit dem Globla Citizen Awards ausgezeichnet. Polen will die Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen und stattdessen sich selber noch besser ausrüsten. Selenskyj ist in Washington eingetroffen. Russland verbietet die Ausfuhr von Benzin und Diesel. Die Ukraine meldet die Zerstörung eines Kommandopunkts in Melitopol. Joe Biden verspricht am Abend weitere 345.000.000, aber noch keine ATAMCS. Freitag: China fordert bei der UN die Aufnahme von Friedensgesprächen. Selenskyj ist in Kanada eingetroffen. Die Angriffe im Süden und Osten der Ukraine werden fortgesetzt. In Belarus beginnt das lang angekündigte Militärmanöver. Selenskyj hat einen Plan für die Rückeroberung Bachmuts. Das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte auf der Krim wird getroffen. Die USA liefern jetzt doch ATAMCS-Raketen. Samstag: Raketen fliegen auf Krementschuk (Zentralukraine), in Sewastopol arbeitet die Flugabwehr weiter auf Hochtouren. An der Südfront rückt die ukrainische Armee weiter langsam vor. Lawrow sagt in New York: „Sie können es nennen wie Sie wollen, aber sie (die westlichen Staaten) kämpfen mit uns, sie kämpfen direkt mit uns.“ Sonntag: In Donezk schlagen unvermindert russische Granaten ein. Eine ukrainische Drohne trifft das Verwaltungszentrum im russischen Kursk. In Donezk gilt ab dem Mittag eine Ausgangssperre, zudem wird eine Militärzensur eingeführt. Cherson wird aus der Luft angegriffen. Der Krieg ist heute zwanzig Monate alt geworden.

 

Am Nachmittag nach dem Berlin-Marathon war der Brillenträger dem Schreibtisch in der Provinz entflohen und saß am Abend an der Bendastraße, Ecke Glasower, mitten in Berlin-Neukölln, nachdem er auf der Hermannstraße gegessen und in der Nähe endlich einen Parkplatz gefunden hatte. Auf dem Spielplatz gegenüber packten die Eltern gerade ihre Kinder ein, Gruppen von jungen Männern schlenderten lautstark an ihm vorbei, ein Jogger schleppte sich über das Kopfsteinpflaster des Gehwegs, ein paar Jungs füllten an der Ecke ihren Vaper auf, und ein Pfandsammler klapperte erfolglos die Mülleimer ab. Die Straßen lagen bereits im Schatten, aber das aufgeschlagene Magazin vor ihm konnte er noch problemlos erkennen. Den „Fluter“ hatte er heute vormittag aus der Schule entführt: Herbstausgabe 2023/Nr. 88. Auf der ersten Titelseite eine hellbraune Kuh, im Hintergrund dunkelgrüne Bäume vor dunkelgrauem Beton. Unter der Kuh hieß das Magazin die Leser*innen „Willkommen in …“, er schlug das Heft auf. Auf der zweiten Titelseite stand ein weißes Auto im Schnee, doch schon auf den zweiten Blick entpuppte sich dieser als Löschschaum auf einem 5er BMW. … „Neukölln“. Das Inhaltsverzeichnis erstreckte sich über zwei Seiten, in der Mitte eine Karte des Bezirks: Oben links das Tempelhofer Feld, daneben der Hermannplatz, und darunter Britz, Gropiusstadt, Buckow und Rudow. Grün ist die Karte nur an den Rändern. Der Brillenträger betrachtete die Terrierschnauze der Hauptstadt von oben und unten. Über ihm waren noch keine der Blätter der Buchen gelb oder braun. Das Magazin berichtet auf über 50 Seiten über einen der am dichtesten besiedelten Orte des Landes. Zu Beginn bekommen gleich neun Neuköllner*innen das Wort; Mustafa, Anja, Mona, Susanne, Antke, Boris, Hassan, Helmut und Simon. Lokale Händler*innen, Aktivist*innen, ein Schauspieler, ein Lehrer und eine Abiturientin. Im weiteren Verlauf des Hefts wird der Bezirk weiter ausgeleuchtet: Das von der Gentrifizierung bedrohte Rudow, die falsch benannte Clankriminalität, das Innenleben einer Moschee, feministische Graffitis, Eckkneipen in finanzieller Schieflage, die verdrängte Armut, das nicht mehr lange brach liegende Tempelhofer Feld, die junge jüdische Gemeinde, Lehrermangel an Brennpunktschulen und die letzte Waschbärplage. Er klappte das Heft wieder zu. Ein zersauster Terriermischling und sein Frauchen gingen gerade an ihm vorbei, auf der Kreuzung pumpten Hip Hop-Bässe aus einem tiefer gelegten Auto. Alles war wie im Heft, nur woanders.
Kurz dachte er an die neue Partnerstadt seines Geburtsortes: In Kiew saßen in diesem Moment auch Menschen auf Bänken, gingen zum Abendbrot nach Hause oder machten sich für die kommende Nacht bereit. Sie gingen auf Konzerte, kauften Bücher, lernten und lehrten in Schulen, schliefen in Betten oder auf der Straße, der Winter war noch weit. Vor ein paar Tagen hatte sich der Brillenträger mit seiner ukrainischen Kollegin in der Provinz unterhalten: „Die Menschen machen einfach weiter. Sie tun die meiste Zeit so, als ob der Krieg gar nicht da wäre, immerhin können sie ihn nur selten sehen und hören. Und wenn doch wieder irgendwo eine Rakete einschlägt oder die Luftabwehr schneller gewesen ist, dann haben sie sich auch daran schon gewöhnt, bevor die Alarmsirenen wieder verstummen, und träumen dann weiter vom Frieden.“

Der Brillenträger sah auf die Uhr. Noch neunzig Minuten bis zum Konzert, gleich hier um die Ecke, im Hole 44, mitten in Neukölln. Den anderen Brillenträger, die Gastgeberin und ihren Sohn hätte er heute auch gerne besucht, doch die waren gerade zum allerersten Mal alle zusammen in Thale, die Mutter des anderen Brillenträgers feierte einen hohen runden Geburtstag. Also entschied er sich, noch eine gute Stunde durch die Straßen der Hauptstadt zu flanieren, oder einen vietnamesischen Eiskaffee zu trinken, während er die „Chroniken der Klimakrise“ las, ein Comic, das er vor wenigen Stunden in Kreuzberg gefunden hatte, mit halb geschlossenen Augen, der Berliner Luft nachschnuppernd, ohne Angst vor Luftalarm, oder Bränden, oder überhaupt irgendeiner Bedrohung.

 

„No one knows what is happening.
No one knows what is happening.
There is a lot of danger out there.
Okay?“

(65daysofstatic: Heat Death Infinity Splitter. 2013)

 

Die Securityleute vor dem Hole 44 machten einen fast zu professionellen Eindruck, besonders angesichts des Publikums, das auch im Dämmerlicht vor dem Club nur sehr wenig bedrohlich wirkte. Der Brillenträger wartete den ersten Ansturm ab und kam dann pünktlich zur Vorband, deren Sound den überraschend hohen Anteil an Metal-Fans erklärte. Er machte sich als erstes mit dem Club vertraut. Der Saal ist ein drei Etagen hoher, beinahe würfelförmiger Raum mit einem u-förmigen Balkon auf halber Höhe gegenüber der Bühne, in dem insgesamt vielleicht fünf- bis sechshundert Menschen einen Stehplatz finden; was sie an diesem Abend auch taten: Es war restlos ausverkauft. Der Brillenträger hatte seinen Platz bereits ausgemacht, aber noch war es unter dem Balkon, vor dem Mischpult, noch zu voll, also wartete er noch die Umbaupause ab und erklomm dann, nach einer Zigarette vor der Tür und einem Ausflug auf die top durchgewischte Toilette, auf der sich alle brav die Hände wuschen, den Balkon, nur um sich zu überzeugen, ob der Sound hier nicht vielleicht noch besser wäre. Das Vibrieren des Fußbodens auf gut drei Metern Höhe wirkte einladend, aber die entsprechend flache Decke darunter versprach noch mehr Bassgefühle. Und obwohl der Sound der beeindruckenden Anlage noch nicht voll ausgefahren schien, erschreckte sich die gerade eben auf den Balkon getretene junge Frau, die als einzige im ganzen Saal bereits wieder einen Atemschutz trug (und es trotzdem schaffte, darunter zu lächeln), als die Vorband nach einem sehr ruhigen Teil ohne Vorwarnung wieder voll einsetzte.
65daysoftstatic, die der Brillenträger in den nächsten Tagen noch des öfteren als „Programmierer-Rock“ oder „Math-Rock“ erklären musste, hatten angekündigt, den zehnten Geburtstag eines ihrer Alben zu feiern, indem sie es von vorne nach hinten aufführen würden, etwas das seit einigen Jahren unter Musikfans immer beliebter wurde. Der Brillenträger war also auf eine gute Stunde Solarplexus- und Gehörmassage vom allerfeinsten eingestellt. Bei der einzigen längeren Ansage allerdings kündigte die Band an, nach einer kleinen Pause („a short break so you can engage in capitalism“) einfach noch eine Stunde dran zu hängen, auch weil das Konzert der Tourabschluss war, und man ja ohnehin nie wissen könnte, wann man sich in dieser Zeit noch mal wiedersehen und hören würde. Ernstgemeinte Wehmut ergriff sofort den gesamten Raum, und niemand ging. Gegen elf Uhr hatten auch die letzten ihre Zurückhaltung aufgegeben und jede*r verlor sich auf seine/ihre Weise in den treibenden Rhythmen und alles einnehmenden Soundkaskaden, über alle Rücken liefen Schauer und Schweiß, während sich die Füße nur auf der Stelle bewegten. Hier wollte niemand rennen und niemand lief vor irgendwas davon.

Als auch dieser langgehegte Traum des Brillenträgers sich also verdoppelt hatte, fuhr er zurück in die Provinz, zurück in die Gegenwart, in der nachts Panzer über deutsche Autobahnen gezogen wurden, dicht gefolgt von zu wenigen Windradrotoren. Er fuhr nie schneller als er musste und am liebsten wäre er das letzte Stück über die im Mondschein liegenden Felder zu Fuß gegangen. Run, boy, run.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert