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Standing on the Shoulders of Giants (LiS 1) (S9b:Ep11)

von | 2023 | 19. Juli | Die Serie, Staffel 9b - Blister

(Foto: Underneath the Bridge. Aberdeen, WA. 7/19/23)

 

Mein Schriftstellerherz
wünscht sich für den heutigen Tag
folgende Geschichte:
Nachdem ich Aberdeen in der Nacht erreicht
und nur wenig und unruhig geschlafen hatte,
kam ich gegen Mittag dann endlich, endlich
mal wieder irgendwo an.
Und dieses mal endlich
an der äußersten Westküste der USA,
am Ufer des Pazifik.
Weiter weg
geradeaus von zu Haus
ging es einfach nicht mehr.
Schon kurz hinter
Cobains Heimatstadt
war am Horizont
dichter Seenebel zu erkennen,
der wie ein dunkel grauer Klotz
auf dem flachen Land lag.
Mein Tank sollte noch gut
für die Hin- und (eventuelle) Rückfahrt reichen.
In Ocean Shores
parkte ich dann direkt auf dem Strand,
neben einigen anderen.
Ich dachte an Erzählungen von Freunden;
so ähnlich muss es in Dänemark aussehen, bei schlechtem Wetter.
Der Nebel zog in Schwaden
durch die offenen Fenster des Campers,
und obwohl ich nur wenige Meter
von der Brandung entfernt stand,
konnte ich sie nur hören.
Es war tatsächlich kalt.
Am frühen Nachmittag aber
wurde der Nebel lichter
und der Wind ließ nach.
Später ging ich dann baden
und löste mich noch später
nur fast
in einem Geschenk von Sonnenuntergang
im Nirwana auf.

Nein, Spaß.
Aber wie es wirklich abgelaufen ist,
erzähle ich dann später.
Wann auch sonst?
Und apropos Spaß:
Den sollte ich ja gestern noch haben.
Hatte ich auch.
Und das ging so:
Ab dem früheren Abend
durfte ich mich davon überzeugen,
dass eine (kleine) Post-Rock Show
ziemlich genau so abläuft,
wie ich es mir vorgestellt habe:
Gut 50 (halb)nerdige Typen
zwischen Ende Zwanzig und Anfang 50,
gut die Hälfte davon
offensichtlich ohne Begleitung,
stehen gut verteilt
in einem ziemlich flachen (ca. sieben Fuß hoch)
und nicht sehr großen Clubraum
(für Quedlinburger*innen und Kenner*innen:
Saal der Reiche, aber im Dreieck geschnitten),
mit kleiner Theke/Merch neben der Bühne.
Im Publikum finden sich auch ein paar Unikate,
wie man sie in Kreuzberg nicht finden könnte,
es riecht sogar ganz kurz nach Rotlicht.
Dazu drei, vier Groupies (aller Geschlechter).
Die insgesamt 11 Musiker
sind dafür ausschließlich männlich.
Relativ offen cis-männlich.
Stört aber nicht.
Denn die meisten vor der Bühne
haben die Augen
eh die meiste Zeit geschlossen.
Die Atmosphäre ist genauso strange,
wie ich gedacht hatte.
Weil diese Musik live
spürbar ganz anders funktioniert
als sie das sonst für die Hörer*innen tut
(siehe Punchline).
Post-Rock höre ich seit fast 20 Jahren
eigentlich nur in ganz bestimmten Situationen:
Beim Lesen (denn es gibt nur ganz selten Vocals),
beim Schreiben/Arbeiten
(aus dem gleichen Grund,
und weil es als so eine Art Jazz/Klassik,
bloß halt für Rocker funktioniert)
und (manchmal) zum Einschlafen.
Also Musik, die ich/man meistens alleine hört/e.
Selbst zwischen den wenigen Gruppen und Paaren,
die sich mit nickenden Köpfen und wippenden Knien
in Schlagzeug-Gitarre-Bass verlieren,
bleibt immer eine gewisse Distanz,
als ob jeder seinen eigenen Kokon mitgebracht hätte.
Die Boxen scheppern
in diesem engen Raum
natürlich brutal derbe,
besonders die Bassboxen,
und die Zwerchfelle des Publikums
vibrieren (un)unterbrochen
in donnernden Soundkaskaden.
Zwischen den Shows
(3 Bands:
Museum of Light,
X Suns
und hubris.)
gehe ich raus zum Rauchen
und kurz mal Verarbeiten.
(Punchline:) Ach, könnte ich doch
diese Musik
zu Hause
auch so laut hören …

Nach dem Konzert
gibt es zunächst
mehrere Probleme zu lösen.
Erstens:
Den Ärger runterzuschlucken,
den der
dann doch
erste kleinere Schaden am Camper
nach sich ziehen wird:
Der rechte Seitenspiegel ist
so nicht mehr zu 100% zu gebrauchen.
Die shoulders (Seitenstreifen)
können in Seattle ziemlich eng werden,
was blöd ist,
wenn auch noch
Bäume,
oder Briefkästen
oder Müllcontainer
sehr nah an der Straße stehen.
Zweitens:
Der Camper und ich
haben noch Sprit
für fünf Meilen.
Die nächste Tankstelle
heißt lustigerweise Spirit.
Lustig, weil sie kurz vor Mitternacht
geschlossen hat.
Mit etwas Glück finde ich
dann doch noch eine,
tanke so viel,
dass es bis an die Küste reichen sollte
und bin dann froh,
dass in Seattle
nachts
nicht so viel Verkehr herrscht.

Der herrscht dafür aber
zwischen Seattle,
Tacoma
und Olympia.
Ich stehe das erste Mal etwas länger im Stau.
Was bei meiner Nervosität und Müdigkeit
aber vielleicht nicht die schlechteste Situation ist.
Einfach gaaaaanz langsam rollen lassen…
Und bei den kurzen Schulterblicken
bleibt selbst im Rückspiegel,
bei allem Spaß,
und bei aller Schönheit der Stadt
und ihrem (wieder) wachsenden Elend,
der Eindruck,
dass selbst in Vierteln wie Ballard
(Prenz’lberg vor guten zwanzig Jahren,
bloß mit ganz vielen, kleineren Werkstätten für Autos)
die Gentrifizierung
schon lange gewonnen hat.
Allerdings ohne dass
der Kiez dabei
den Großteil seines Charmes verloren hätte.
Aber okay,
Starbucks
gab’s hier halt auch schon,
bevor es ein Konzern war.
Kurzum:
Seattle ist unerwartet teuer.
Vielleicht doch sowas
wie das Hamburg der USA, Dirk.
Nur dass das hier nicht so draußen hängt.
Das wissen sogar die Radiosender:
Washington ist momentan der Bundesstaat
mit den höchsten Lebenskosten
im ganzen Land.
Da können sich die Dispensarys
dann sogar gute Preise leisten,
der Umsatz dürfte enorm sein.

Aberdeen hingegen
ist davon
das genaue Gegenteil,
mal abgesehen
von der Dispensary-Dichte.
Am Morgen strahlt
über dem Walmart (ungewöhnlich: mitten in der Stadt)
der Himmel.
Und ansonsten strahlt hier
gar nichts.
Es sieht wieder aus
wie in den abgefucktesten Gegenden im Heartland:
Verfall, Verfall, Verfall.
Und das jetzt noch
als Hafenstadt,
in der an jeder dritten Ampelkreuzung
Menschen um Nahrung,
Geld oder nur ein Lächeln betteln,
oder verwirrt und verwahrlost
in der Gegend rumlaufen.
Zu all dem kommt dann hier
noch auffallend viel Müll.
Sicher stehen auch hier
nicht wenige gepflegte Grundstücke,
aber die Übergänge zwischen
Über-die-Runden-kommen
und Nicht-über-die-Runden-kommen,
die sind brutal fließend.

Unter der Brücke,
am schlammigen Ufer des Wishkah
(was sich tatsächlich mit „Stinkender Fluss“ übersetzt),
dem Hometown Memorial für Aberdeens
totesten Sohn,
sieht es dann genauso aus:
Wenn überhaupt,
dann stehen hier die Dinge
höchstens noch im Weg.
Es gibt Gedenktafeln,
eine kleine Bronzeplatte,
alte Blumen,
Müll,
Warnhinweise vor Spritzen.
Ein Mahnmal
der Trostlosigkeit.
Und tatsächlich
irgendwie immer noch toxisch.
Auf der Bronzeplatte steht
als letztes Zitat:
„My name is Kurt
and I sing and play the guitar
and I’m a walking, talking
bacterial infection.“

Und nun
sitze ich also hier
im Camper
am Strand.
Immer noch.
Mehr kann ich auch nicht machen.
Im Vergleich zu den letzten Wochen
ist es draußen nahezu arktisch.
Noch.
Denn inzwischen ist es kurz vor drei,
und draußen scheint es tatsächlich
langsam heller zu werden.
Ich vermute, dass die Flut
eher kommt als geht
und will den Camper lieber
noch ein kleines Stück zurücksetzen,
bevor ich mich gleich siegesgewiss
in die Sonne am Pazifik setze.

Einige Minuten später
lese ich dann
im Internet nach,
was es heißt,
den „Sand falsch gelesen“ zu haben:
Ich habe mich direkt festgefahren, und das Wasser wird innerhalb der nächsten Stunde
den Camper erreichen.
Das vermute ich nicht nur,
das verrät mir auch der freundliche Nachbar,
dessen eigener Camper gerade eben
aus dem Seenebel aufgetaucht ist.
Er hat eine Schaufel dabei
und beginnt ohne große Worte
das Holzbohlensuchen.
„You may need this.“
Ich glühe vor Dankbarkeit.
Der Schreck ist mir ordentlich in die Glieder gefahren
und alle Ängste
waren sofort wieder hellwach:
Ich hab’s gewusst!
Zu viel,
zu unvorbereitet,
zu selbst überschätzt,
zu eingebildet.
Irgendwann musste der Absturz ja beginnen;
ein Unglück kommt selten allein.
Insgesamt gute drei Stunden lang
war der Stimmungsabfall
noch steiler als nach den ersten zwei Wochen.
Die letzten beiden
waren wohl dann doch
einfach zu gut,
irgendwann muss die Blase ja platzen,
wenn man einfach nicht
aufhört
zu kratzen.

Und dann sitze ich
aber doch noch erlöst
mit meinen nackten Füßen
im unfassbar warmen, dunklen Sand
und sehe vor mir
nur Wasser.
Wirklich.
Der Horizont
ist völlig leer.
Kein Schiff.
Keine Bojen.
Keine Inseln.
Nicht mal Möwen.
Ich setze erleichtert
das Basecap ab
und lasse meine Schultern sinken.

Zurück in Aberdeen,
in der Sicherheit
eines all american places
und mit sattem Magen,
nehme ich mir vor,
lieber auch die letzten beiden Wochen
noch gut vorbereitet zu sein.
Ich muss mich endlich losreißen,
auch wenn meine Vorstellungen
weit übertroffen wurden.
Ich muss mich vom NW verabschieden,
dem linken Schultergürtel der USA,
und bin mir sicher,
einen Bruchteil meines Herzen
gerne hier verloren zu haben.

Ab morgen bewege ich mich dann
also auf dem Highway No. 1(01)
nur noch nach Süden.
Und mit Sicherheit
wird mich auch dort
Gigantisches erwarten.
Oder erwarte ich das nur?
Um sicher zu gehen,
habe ich aber für morgen Abend
ein Ticket für die Premiere
des zweiten Teils von „Barbenheimer“,
im CAT (Coming Attractions Theatres),
in Astoria,
Oregon.
Wozu ich zunächst auch über eine gigantische Brücke fahren muss,
auch um einen sicheren Hafen
für zwei Nächte
zu finden.
Dazu aber dann mehr.

Aktuell ist es 19.43 Uhr
und ich habe mich wieder beruhigt.
Offensichtlich hat das Schreiben
seine Wirkung nicht verloren,
die Schultern meiner selbsterwählten Vorgänger
sind immer noch breit genug.
Auf meiner Breitbildleinwand jedenfalls
geht gerade die Sonne langsam unter,
der Himmel ist wolkenfrei.
Ich lungere auf meinem Campingstuhl
vorm Camper
vorm Walmart
und blicke auf diese eine krasse,
stillgelegte Eisenbahnbrücke
über den Wishkah.
Auf einmal dröhnt in direkter Nähe ein Zugsignal,
ich fahre zusammen
und erkenne,
dass ich nur 25 Fuß entfernt
vor Bahngleisen sitze.
Die nächsten Zugsignale
sind noch ohrenbetäubender,
gleich zwei Loks halten genau vor mir
(der nahe Bahnübergang
hat keine Schranken)
und verdecken mir beinahe
meine Sonne.
Der Zug scheint aber nur zu rangieren,
denn plötzlich bewegt er sich wieder zurück.
Aber das nur, um keine fünf Minuten später
mit irgendwie noch lauterem Getute
dann doch richtig loszufahren.
Jetzt ziehen ganze fünf Loks
hauptsächlich Öltanker.
Und einige Güterwaggons
(Erze, Kohle, Gestein, Holz).
Das Spektakel dauert mehr als zehn Minuten.
Ich werde mich nie wieder
über den Bahnübergang am Thalenser Musestieg
oder die Ampelkreuzung auf dem Harzweg in Quedlinburg
aufregen.
So wahr Kurt
völlig zu recht
von hier abgehauen ist.

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