Tja, heute wäre der letzte Tag gewesen, auf dem Oktoberfest. Stattdessen: Feiertag, alles hatte zu. Wer den Wochenendeinkauf noch nicht erledigt hatte, machte heuer a depperts G‘sicht.
Der Brillenträger zierte sich noch einige Minuten, bevor er sich dann doch nicht davon abhalten konnte, wieder von der Couch aufzustehen und den Versuch zu unternehmen, irgendwas provozierendes zum 30jährigen Einheitsjubiläum zu schreiben. Außerdem war Samstag, das Wetter mittelprächtig und die Hausaufgaben konnten auch bis morgen noch warten. So konnte er ausnahmsweise mal schon vor dem späteren Abend, also wach, eine Serie zu Ende schauen. Die Serie (heavy spoilers coming in)! Da hatte der Stifter also gegen das Reinheitsgebot von 15hundertirgendwas verstoßen! Wenn das mal nicht der perfekte und deutscheste Plottwist war, den man sich nur ausdenken konnte. Kein Mord war sinnlos, alles fügte sich zusammen, die Hoflingerdynastie hat sich ihren Weg zurück auf die Wiesn ertrotzt. Nur die Mutter (wie supergut ist eigentlich Martina Gedek?) lauerte noch im Irrenhaus auf ihre Zeit.
Der Brillenträger kam aus dem Schwärmen nicht mehr raus. Das deutsche House of Cards! Jede Rolle perfekt besetzt. An alles gedacht. Spitzenmusik. Düster, abgründig, menschlich. Romeo und Julia. V wie Vendetta. Krieg und Frieden. Modern Times. Jeder stirbt für sich allein. Und Bier, sehr viel Bier. München halt. Wie gesagt, perfekt. Und schon wieder vorbei. Wo blieb die Ankündigung der zweiten Staffel?
Logischerweise drängten sich dem Brillenträger zwanzig Jahre alte Erinnerungen auf: „Lebenshilfe München e.V.“ – Zivildienst. Kriegsdienstverweigerung im ehemals kapitalis-tischen Ausland, in der Hauptstadt der ehemals US-amerikanischen Besatzungszone. Das hatte was. Und der eigentliche Grund, der nicht weit von München entfernt wohnte, noch so viel mehr.
Der erste Tag in der Wohngemeinschaft in Untergiesing war auch ein Samstag. Der Brillenträger konnte also die meisten bereits beim verspäteten Frühstück kennenlernen. Nach Dienst fühlte sich das gar nicht an. Eher nach Leben. Dem Brillenträger kam das nächste Jahr auf Anhieb viel leichter als erwartet vor. München befand sich ohnehin gerade im Erholungszustand. Drei Wochen Oktoberfest waren dann auch mal wieder genug. Für die Zivildienstleistenden stand schon bald der erste Lehrgang an. Irgendwo im Bayrischen Wald.
Die Abgeschiedenheit hielt die noch nicht Zwanzigjährigen nicht davon ab, noch nicht zwanzig zu sein. Die Abende liefen schnell aus dem Ruder. Ruhestörung, Polizei, Drogendelikte, Rausschmiss. Alles halb so wild. Der Brillenträger saß derweil auf seinem Zimmer, zusammen mit dem wiedervereinten Deutschland: Der Leipziger mit der kuriosen Organanomalie (Heterotaxie), der fesche Bub aus der Münchner Schickeria, der Jungunionist aus Harlaching und das Lehrerkind aus dem Harz. Cola, Fanta, ab und an mal eine rauchen, ein Gesellschaftsspiel. Unsere Mütter wären stolz gewesen. Die Gespräche über hüben und drüben ergaben sich von selbst, man teilte bereits den selben Humor. Das Ossi-Wessi-Gequatsche war ihnen als den ersten egal, auch weil sie einfach keine Ahnung hatten. Treuhand? Volksvermögen? Souveränität? Das waren eher Fremdwörter. Sie waren froh, beim Monopoly nicht als erstes raus zu fliegen. Kartell- und Monopolkapitalismus war für sie nur ein Brettspiel, bei dem man sich gut unterhalten konnte. Über Mädchen, die Zukunft oder Monopolkapitalismus, zum Beispiel. Die Handys lagen irgendwo im Schrank, telefonieren oder schreiben war noch viel zu teuer, und was anderes konnte man noch nicht damit machen.
Heute kann sich der Brillenträger nicht daran erinnern, dass die Jungs damals über den Tag der Einheit gesprochen hätten, hatte dieser doch gerade erst sein zehnjähriges Jubiläum gefeiert. Aber wozu sollten sie auch über etwas so offensichtliches und selbst-verständliches gesprochen haben? Ihre Naivität empfand niemand von ihnen als Makel. Eher als Stärke. Wie viel sie davon in den nächsten zwanzig Jahren noch brauchen würden, konnten sie nicht ahnen, wollten es auch nicht. An irgendwelchen innerdeutschen Differenzen würden sie jedenfalls nicht scheitern, so viel war nach diesen paar Tagen kritallweizenklar. Nicht mit Industriezucker gepanscht, nur Gerste, Hopfen, Wasser und ein wenig Zeit zum Gären. Andere würden noch in zwanzig Jahren nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden suchen, den Wiedervereinigungsprozess schal werden lassen, nur um trotzdem jedes Jahr wieder einen Grund zum Anstoßen haben zu können.
Und warum? Weil vor hundert Jahren reiche Preußen nach Bayern gekommen sind, um nach etlichen Todesfällen und Hochzeiten das größte profitorientierte Besäufnis der Welt zu erfinden.
„Ein Pro-sit, ein Pro-sit der Gemüt-lich-keit“, summte der Brillenträger, als er sich wieder auf die Couch legte. Feiertag.
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