Teil 1 – Rubrikon
So.
Ich befürchte,
dass diese Episode
sehr wahrscheinlich
unter die Rubrik
„Das finde nur ich selber gut“
fallen wird.
Aber zur Theorie
vom Sinn und Unsinn
der Rubriken
kommen wir erst
im zweiten Teil.
Denn am Wochenende
geht erstmal
ein wunderschöner Oktober
zu Ende.
Wirklich.
Die Durchschnittstagestemperatur
lag in den letzten Wochen selten unter 20°C,
Sonnenschein war der Normalfall.
Und die erste Ferienwoche
war wie Sommerurlaub,
hier im Weltkulturerbe,
nicht nur für die Touris.
Dass meine Gastherme
momentan schon freiwillig gegen Putin kämpft
(sie will nur ganz selten anspringen)
fällt überhaupt nicht auf;
das Thermostat steht auf 0.
Aber sollte mein Urlaub
in der nächsten Woche wirklich glücken
(Kurzgeschichte deluxe incoming),
dann beginnt mit meiner Rückkehr
der Winter.
Dann beginnt alles,
vor dem wir uns bis dahin
nur gefürchtet haben.
Zu den bisherigen Rubriken des Schreckens
werden immer nur noch neue dazukommen,
Lageberichte des Untergangs,
die sich weiter pausenlos
aneinander reihen werden,
sich überlagern
und gegenseitig anheizen:
Denn der Krieg in der Ukraine,
der fängt jetzt erst an,
so rrrrichtig hässlich zu werden.
Deswegen,
und weil morgen mein 41. Geburtstag ist,
wollte ich es mir eigentlich heute
mit meiner Mutter und Schwester
hier auf der Couch gemütlich machen:
Netflix and Chill.
Der deutsche Kandidat
für die nächsten Oscarverleihungen
kommt heute aber nur in ausgewählten Kinos
und erst morgen im Netz;
dieses verdammte Streaming!
Ich hatte sogar schon
die nächste „hidden story“ vor Augen:
Der mit seinem radikalen Pazifismus so langsam ins Straucheln geratene Brillenträger wird, neben zwei der sehr wenigen Personen sitzend, für die er aller Wahrscheinlichkeit nach töten würde, von seinem beginnenden Irrpfad wieder abgebracht, und am Ende des Films stoßen alle auf den Ewigen Frieden an und zucken dabei nur enttäuscht mit den Schultern.
So aber habe ich bis jetzt
nicht mal reinschauen können.
Vielleicht auch besser so.
„Das Grauen läßt sich ertragen,
solange man sich einfach duckt
– aber es tötet,
wenn man darüber nachdenkt.“
(Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. 1928.)
Denn ja, es bleibt dabei:
Im Krieg gibt es nichts Neues.
Krieg ist immer
noch immer gleich:
Falsch.
Und zwar ganz egal,
wie viele Kategorien
wir aufmachen,
um irgendwas einzuordnen,
zu analysieren,
um dann zu urteilen.
Ganz egal,
in wie vielen Talkshows
darüber gestritten wird.
Ganz egal,
was vor dem UN-Sicherheitsrat
besprochen und abgestimmt wird.
Ganz egal,
wie viele Leitartikel
noch geschrieben werden,
oder wie viele Kriegsblogger
live an der Front sterben wollen.
Ganz egal,
wie viele Kerzen
in den Kirchen brennen,
und wie viele Menschen davor beten.
Und ganz egal,
wie viele neue launige Rubriken
wir erfinden,
um uns irgendwie
von seiner Falschheit
und seinem Wahnsinn
abzulenken.
„Wenn die Lektüre der Tageszeitung
das Gebet des modernen Menschen ist,
dann betet heute
bei der Lektüre dieses Gemenges
ein sehr seltsamer Mensch.
Die ganze Kultur
und die ganze Natur
werden hier Tag für Tag
neu zusammengebraut.“
(Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. 2008.)
Und am allerheftigsten blubbert es gerade,
es ist immerhin immer noch Krieg,
in der Propagandaküche.
Die Tageszeitungen
kommen mit dem Servieren
der Hauptgerichte gar nicht mehr hinterher.
Jeden Tag unzählbare neue und alte Zutaten,
für jeden Geschmack was dabei,
alles ist Propaganda,
alles andere Verschwörungstheorie
oder die Wirklichkeit.
Und deswegen können alle
inzwischen auch einfach alles behaupten,
so richtig weiß eh keiner mehr was.
Wohl bekomm’s!
Der Relativismus sitzt am Küchentisch
und hat schon die dritte Flasche aufgemacht,
die Postmoderne liegt schon zugedröhnt,
aber friedlich schlummernd unterm Tisch.
So sieht es jedenfalls aus.
Denn in Wirklichkeit
hat sie einen grausamen Albtraum:
In der Ukraine gibt es wirklich US-Biolabore,
in denen alles mögliche
an biologischen Kampfstoffen zusammengemixt wird.
Die ukrainischen Nazis sind wohlauf
und vom „Westen“ inzwischen voll respektiert.
Die Pipelinesabotage ging natürlich
auf das Konto irgendwelcher Marines,
die „schmutzige Bombe“ ist bereits gezündet worden.
Und es spielt gar keine Rolle mehr
von wem.
Der Relativismus ist zur gleichen Zeit
auf Kaffee umgestiegen
und blättert durch irgendein Feuilleton,
das vor ihm auf dem Küchentisch liegt.
Dann beginnt er der Postmoderne vorzulesen:
„Sergij Schadan erhält
‚für sein herausragendes Werk
sowie seine humanitäre Haltung,
mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet
und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft‘
den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Hast Du gehört, Postmoderne?
Das hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gesagt,
bei der Preisverleihung in,
liegst du gut?,
der Frankfurter Paulskirche.
Nicht?
Na dann schlaf mal weiter.
Schadans ‚Zuwendung für Menschen im Krieg‘
gilt nämlich auch
dem ukrainischen Oligarchen Wsewolod Koschemiako.
Ja, Postmoderne,
der Ukrainer mit der nationalistischen Privatarmee.
Für die macht der Friedenspreisträger
nämlich kräftig Werbung,
und das auch schon vor dem Krieg.
Postmoderne, hör doch,
es wird noch besser:
Vor einigen Monaten
beteiligte er sich in seiner Heimatstadt Charkiw
an einer Benefizveranstaltung
für die Aufklärungs- und Sabotagetruppe »Kraken«
– eine Sondereinheit des faschistischen Asow-Regiments.
Bereits 2016 und 2021 trat Schadan
beim Banderstadt-Festival in Luzk auf.
Postmoderne,
ist das nicht dieses Fest,
das seit des 65. Jahrestages
der Gründung
der faschistischen Ukrainischen Aufständischen Armee,
die am Holocaust beteiligt war,
abgehalten wird,
um Stepan Bandera
als »nationales Symbol« zu verewigen?“
Da wacht die Postmoderne kurz auf
und lallt von unter dem Tisch:
„Schadan? Der Schadan?
Der 2014 auf der Leipziger Buchmesse
den Euro-Maidan als Volksrevolution verkauft hat,
aber keiner ihn so richtig ernst nehmen konnte,
weil für alle viel zu offensichtlich war,
dass das alles mindestens zur Hälfte
auch ein Regimechange durch den „Westen“ war?“
Der Relativismus winkt ab:
„Besser, du schläfst einfach weiter.“
Und für alle die sich jetzt fragen:
Was bitte war das denn gerade?
Das war nur die nächste neue Rubrik:
„Relativismus und Postmoderne – der Podcast.“
Heute waren die beiden
allerdings nicht so gut drauf;
das Ende der Geschichte
lässt sich beim besten Willen
nicht mehr schönsaufen.
Denn die Gegenwart
sieht nun mal so aus:
Russland zerschießt inzwischen alles,
vor allem aber gezielt
die erneuerbaren Energien der Ukraine.
40% sind bereits zerstört.
Nicht nur, dass die Ukraine
keinen Strom mehr exportieren kann,
um damit die astronomischen Rechnungen zu begleichen,
und nicht nur, dass sie jetzt schon
zu wenig Strom für die meisten Ukrainer hat,
jetzt ist sie auch noch
wieder auf die Kohle angewiesen,
und die liegt nun mal im Donbas.
Das größte AKW Europas
ist ebenfalls in russischer Hand.
Und, wie bekannt,
der Winter beginnt erst noch.
Um das alles zu legitimieren,
fährt Russland inzwischen alles auf,
was auch nur halbwegs denkbar ist:
Die Ukraine soll an einer „schmutzigen Bombe“ bauen.
Dienstag, vor dem UN-Sicherheitsrat,
bleibt es bei Behauptungen,
heute werden dann vermutlich gefälschte Beweise
auf Telegram vorgelegt.
Russland kündigt an,
Starlink vom Himmel zu holen
(während Elon Musk
sein endgültiges Twitterhandle kreiert).
Und Russland ist dabei,
das Kriegsblatt erneut zu wenden:
In Cherson bleibt die ukrainische Armee
bereits im Schlamm stecken,
während immer mehr
und immer nur mehr
junge Menschen sinnlos verrecken.
Nichts hat sich geändert.
Nichts wird sich ändern.
Nicht, so lange der Krieg
alles beherrscht.
Und die einzigen,
die diesen Krieg beenden können,
die sitzen in Moskau
und denken nicht mal daran;
auch wenn sie gerne anderes behaupten.
Aber, geht es nach dem „Westen“,
scheint man sich sicher zu sein:
Lange sollte es nicht mehr dauern.
Deswegen gibt es jetzt auch schon
die Internationale Wiederaufbaukonferenz
in Berlin.
Wenn schon kein Frieden,
dann wenigstens etwas Geschichte.
Ein neuer Marshallplan soll kommen,
„am besten sofort“ (Olaf Scholz).
Die Ukraine braucht ab nächstes Jahr
fünf Milliarden Euro,
jeden Monat,
denn Russland betreibt
die Taktik der verbrannten Erde,
nur eben andersrum.
Selenskyj fordert insgesamt 36 Milliarden
vom Rest der freien Welt,
für den die Ukrainer gerade sterben.
Aber auch nur wenn der Krieg
bis zum nächsten Frühjahr
vorbei sein sollte.
Der aber,
der hat seinen Höhepunkt
noch nicht mal überschritten.
Und damit zurück zum Wetter:
Am Himmel nichts Neues.
Amen.
„Lass diese Welt, wie sie ist.
Auch wenn sie falsch ist,
du bist es nicht.
Halt dich an deiner Liebe fest.
Wenn keiner abstürzt,
war sie nicht echt.“
(Wanda: Wir sind verloren. 2022.)

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