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War Politics (S11:Ep5)

von | 2024 | 1. September | Die Serie

 

„Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt.
Das Unerhörte ist alltäglich geworden.“

(Ingeborg Bachmann: Alle Tage. 1952)

 

So,
Deutscher Herbst,
alles Schlechte
zum 85. Jubiläum!
Seit heute Morgen um Acht
wird Zurück gewählt.
Zuerst, wie immer:
Im Osten.
Genauer:
In Sachsen und Thüringen.
Die ganze Woche über,
war die rechtsextreme Spannung überall zu spüren,
denn es wurde sogar mal wieder über Politik geredet,
sogar hier in Sachsen-Anhalt,
sogar in den Mittagspausen;
der heraufdämmernde Vorbürgerkrieg unter Höcke
ließ die Sommertage schell noch heißer werden.

Und aufgeheizter konnte die Stimmung
nach Solingen 24
eigentlich schon wieder nicht mehr sein.
Sogar im nahen Aschersleben
eskalieren die Redner*innen
wie lange nicht mehr,
und wollen nach ihrer Montagsdemo
sogar selbst mit einem Messer
und „mit dem Leben bedroht“ (sic) worden sein.
Einzig lustig bei diesem Karneval
ist nur der Mann mit dem lustigen Rock und der lustigen Mütze,
der den Rücktritt der „Hampelregierung“ fordert.
Außerhalb von Aschersleben aber,
also in Restdeutschland,
ist eine Woche Reaktionismus angesagt
wie lange nicht mehr,
als ob es um irgendwas gehen würde:
In Recklinghausen und Moers
knallt die Polizei zwei Typen mit Messer in der Öffentlichkeit ab.
Jürgen Elsässer und André Poggenburg
sind auch wieder pünktlich auf Sendung
und wissen ganz genau,
was vertuscht wird
und dass die „Altparteien“ (alle!)
daran Schuld sind.
Dann schlägt des Merzens große Stunde im Kanzleramt:
Asylrechtsaushebelung bei Schnittchen und Bier.
Christian Lindner lindnert nebenbei:
Irgendwelche Asylanten kriegen gar nichts mehr!
Leider auch wieder weniger überraschend
fordern Die Grünen
eine „Zeitenwende im Inneren“.
Und hier im Harzkreis
eskaliert dann auch noch der Landrat
im Internet:
„Sehr geehrte Ampel-Regierung,
leisten Sie einen letzten Dienst
für das deutsche Volk
und treten Sie zurück.
Sie regieren das Land zu Tode.“
Garniert hat der Landrat das ganze
mit einem Schwarzweißfilmchen,
in dem kein geringerer als F.J. Strauß
irgendwas reaktionäres stammelt.
Am Donnerstag aber schon
kommt das „Asylpaket“,
die Bild frohlockt:
„Merz wirkt“.
Im Zuge dessen wird auch das Waffenrecht verschärft,
und Teilnehmer*innen von Menschenansammlungen
sollten sich ab sofort überlegen,
ob ihr mitgebrachtes Taschenmesser
in den falschen Händen
vielleicht doch jemandem schaden könnte.
Am Freitag startet dann bereits
der erste Abschiebeflug ins neue Afghanistan,
in den Foltergefängnissen der Taliban
werden Zellen freigemacht.
Und der rechtskonservative Flügel
der nächsten Kanzlerpartei
freut sich bereits auf eine
„grundlegende Migrationswende“;
Markus Söder trägt jetzt übrigens Bart,
ein Doppelkinn lässt sich nun mal
nicht anders verbergen.

Und das alles auch noch direkt vor den „Ostwahlen“,
die AfD regiert ja eigentlich schon.
Wenn da nur nicht die tagesschau
schon mal den Rettungsanker auswürfe
und frägte, ob es denn nicht auch einfach
ohne FDP und Grüne gehen würde;
die nächste Groko
wirft ihre nächsten Schatten;
alles besser als Faschismus.
Über das Ergebnis der „Ostwahlen“
kann ich aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts schreiben,
die Wahllokale von Görlitz bis Eisenach
schließen erst in etwas mehr als vier Stunden.
Zum Glück habe ich bis dahin noch etwas zu tun;
die Spannung wäre ja sonst unerträglich;
denn vor meinen Fenstern
johlt es bereits seit Stunden:
Die diesjährige Hölle (von Q)
geht in diesen Minuten zu Ende,
und ich habe versprochen,
nachher beim Abbauen auf dem Markt zu helfen.
Bis dahin also noch ein bisschen Vorgeplänkel:
Die größte Konkurrentin der AfD,
Sahra Wagenknecht,
kriegt beim Wahlkampf in Erfurt
erschreckend rosa Farbe ab,
der Spritzer wird umgehend niedergerungen,
Sahra verzichtet auf ein trumpeskes Foto
und duckt sich schnell von der Bühne.
Eine Regierungsbeteilung in beiden Bundesländern
kann noch nicht endgültig ausgeschlossen werden.
Zumal auch noch rauskommt,
dass selbst Bodo Ramelow
noch abgeworben werden sollte.
Der dürfte aber ab morgen mit der Übergangsministerpräsidentschaft
mehr als beschäftigt sein.

Die Faschopartei selbst
lässt die Zeit und die Medien
einfach für sich arbeiten,
auch die schlimmsten Entgleisungen Höckes
in irgendwelchen Talkshows
oder auf irgendwelchen Marktplätzen
können noch verhindern,
dass mehr als 30% der „Ostdeutschen“
gerade seine Partei wählen.
Oder sogar noch weiter rechts,
denn unser André empfiehlt
in dieser Woche:
„Erststimme AfD,
Zweitstimme Freie Sachsen!“
Würde es eine Drittstimme geben,
er würde sich mit Sichherheit
auch für die Heimat (ex-NPD) aussprechen.
Gibt es aber nicht,
deswegen ruft er lieber weiter
zu Faschoscheiß auf:
„Am 31.08. nach #Zeitz für Frieden
auf der Welt und mit sich selbst
An diesem Tag findet auch eine #CSD-Veranstaltung statt,
bei der wieder einmal Leute,
die offensichtlich ein Problem mit sich selbst
und ihrer sexuellen Identität haben,
anderen Leuten auf die Nerven gehen.
In teils anstößiger und unsittlicher Weise
propagiert man dabei wiederholt #Gender-Blödsinn
und allerlei sexuelle Abarten,
die eigentlich reine Privatsache sind.
Selbst vor Kinderaugen und -seelen
macht dieser Fluch nicht Halt.
Nun sind die Vortänzer und Rädelsführer
genau dieser Klientel genau diejenigen Politiker,
die auch sonst nicht für Frieden und Ordnung,
sondern für Krieg und Chaos stehen,
welch ein Zufall.
Wir aber wollen #FRIEDEN in Europa und unserer Gesellschaft!
Dafür demonstrieren wir.“
Nur unwesentlich deutlicher wurde es dafür in Wien,
wo prominente Mitglieder*innen der JA (Junge Alternative)
sich beim Klassentreffen mit der Identitären Bewegung
mal wieder völlig vergessen:
Der Holocaust wird da offen als „geil“ bezeichnet,
und im Übrigen brauche Deutschland ein Srebrenica 2.0.
Und das sollen wahrscheinlich dann so Vögel vorbereiten und durchführen
wie die gerade aufgeflogene Nachfolgetruppe der verbotenen „Nordadler“,
die sich im Moment in Zwickau ein neues Nest bauen.

Okay,
zu Faschos dann also später
noch genauere Zahlen.
Weil der Spannungsbogen sonst gleich reißt,
überblende ich diese reaktionäre Scheiße
ganz einfach mit etwas schönem,
genau, mit Basketball;
der Sport mit den guten Geschichten,
die sich so schön in Zahlen ausdrücken lassen:
Rookie- und Franchise-Rekorde
gibt es für Caitlin Clark schon keine mehr zu brechen,
also nimmt sie sich in ihrer ersten Profisaison
jetzt gleich noch ein paar Ligarekorde vor:
Sie ist, bei noch acht verbleibenden Spielen,
bereits die erste Spielerin,
die ein 30+p/12-a/5-3pt Game geschafft hat;
mehr 20+p/10-a Games hat keine andere Spielerin;
sie ist dabei, die erste Spielerin zu werden,
die die Liga in Assists und Dreiern gleichzeitig anführt,
und die die meisten Double Doubles als Guard aufweist;
nur drei Spielerinnen in der Ligageschichte
haben (noch) mehr Assists in einer Saison ausgeteilt;
und mit der direkten Beteiligung an knapp 37 Punkten pro Spiel
hat sie auch bereits den höchsten Wert in dieser Kategorie,
ever.

Gut,
während sich die einen
eine Karriere in Höchstgeschwindigkeit aufbauen,
reißen andere ihre in Zeitlupe ab,
die Rede ist natürlich immer noch vom Frisurensohn.
Es ist mehr als ermüdend,
diesem Niedergang in seinen ganzen Facetten zu folgen,
deswegen hier nur eins der Lowlights
der letzten Woche:
Auf seiner weiter abschmierenden Social Media Plattform (Truth Social)
kotzt er seinen Follower*innen
folgenden Dreck auf die Schwarzen Spiegel:
„Funny how blowjobs impacted both their careers differently.“
Meinen tut er damit Hillary Clinton und Kamala Harris,
und das sagt eigentlich mal wieder alles darüber,
was für ein Arschloch der Typ immer noch ist;
wenn Selbstsabotage geil machen würde,
er bräuchte kein Viagra mehr.

Noch nie gebraucht
hat das mit absoluter Sicherheit
Emanuel Macron.
Der fühlt sich so standfest,
dass er dem Linksbündnis,
das eine relative Mehrheit des Landes
im Parlament abbilden würde,
einfach eine Absage erteilt.
Lieber nichts regieren
als mit den Linken;
schade eigentlich.
Vielleicht wartet er aber auch einfach nur ab,
was der Rest des Herbstes (Österreich, USA)
noch bringen,
bevor er sich zu irgendwas herablässt.

Hierzulande ist allerdings,
abseits von Faschothemen,
zu Beginn des Herbstes
zumindest im Portmonee einiger
soweit alles in Ordnung:
Die Inflation fällt erstmals
seit dem Schock im letzten Jahr
unter zwei Prozent.
Die Reallöhne sind halbwegs ausreichend gestiegen.
Sogar der Sprit ist halbwegs bezahlbar im Moment,
und nur der Döner kostet immer noch acht Euro.
Preispolitik ist eben auch
nur Politik.

Und damit dann
zurück zum Krieg.
Zuerst der im Nahen Osten:
Moskau möchte,
dass Palästina Mitglied der BRICS-Staaten wird.
Im Westjordanland
kommt es zum größten Militäreinsatz
seit über 20 Jahren.
Sogar das deutsche Medienmagazin Zapp
kritisiert inzwischen offen
die deutsche Berichterstattung zum Krieg gegen Gaza,
während Israel eben dort einen Hilfskonvoi bombardiert.
Und doch, oh Wunder,
für die Polioimpfungen
wird eine dreitägige Feuerpause eingehalten.
Danach kann der Krieg fortgesetzt werden.

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe.
Woche 129.
Vergeltung und Gegenvergeltung. Montag: Selenskyj meldet die Einnahme von zwei weiteren Orten in Kursk. In Kramatorsk stirbt in der Nacht ein Reuters-Mitarbeiter bei einem Raketeneinschlag in einem Hotel. An der Grenze zu Belarus stehen inzwischen auf beiden Seiten über 100.000 Soldaten. Um drei Uhr nachts beginnt der bislang größte Luftangriff auf die Ukraine seit Beginn des Krieges, mehr als die Hälfte der Oblaste ist Ziel von aller Art Drohnen und Raketen. Bis zum Nachmittag werden „nur“ fünf Tote gemeldet, die gesamte Energieinfrastruktur des Landes ist massiv beschädigt. In der Ostukraine werden die Evakuierungszonen erweitert. Am Abend kündigt Selenskyj an, alles schnell zu reparieren. Darüber hinaus sollen zeitnah die ersten F-16 Kampfjets zum Einsatz kommen. Dienstag: Krywyj Rih wird mit einer ballistischen Rakete getroffen, es sterben vier Menschen. Seit den Morgenstunden herrscht erneut landesweit Luftalarm, wieder steht Kiew im Zentrum der Angriffe. Die ukrainische Armee versucht nach Belgorod durchzubrechen. Mit Orliwka wird der nächste Ort im Donbas „befreit“. Laut des russischen Vize-Außenminister Sergej Rjabkow ist es „eine Tatsache“, dass die USA am Einmarsch in Kursk beteiligt sind. Am dortigen AKW wird Luftalarm ausgelöst. Die Ukraine testet die erste eigene ballistische Rakete. Am Nachmittag glaubt Selenskyj, der Krieg werde letztendlich durch Dialog beendet. Stoltenberg beruft für morgen den Nato-Ukraine-Rat ein. Die Energieinfrastruktur der Ukraine befindet sich laut Caritas in einem „katastrophalen Zustand“. Mittwoch: In Rostow wird ein Öllager in Brand geschossen. In Krywyj Rih schlägt die nächste Rakete ein. Die Schule beginnt für die meisten ukrainischen Kinder online. Laut CIA will die Ukraine die Gebiete in Kursk „für eine gewisse Zeit“ halten. Der Nato-Ukraine-Rat stellt fest, dass weiterhin geholfen wird. In Pokrowsk bleibt die Situation „extrem schwierig“. Donnerstag: Olena Selenska sagt, ukrainische Kinder sollen sich nicht als Opfer eines Krieges, sondern als eine „Generation von Gewinnern“ betrachten (44% leiden unter PTBS). Wieder ertönt über weiten Landesteilen Luftalarm. In Belgorod wird die zweite Achse bei Schebekino getestet. Stelmachiwka in der Region Luhansk und Mykolajiwka in der Region Donezk werden als nächstes „befreit“. Der erste F-16 fällt vom Himmel, wurde dafür aber nicht abgeschossen. Die Stromabschaltungen werden ausgeweitet. Freitag: In Sumy und Poltawa brennen Industrieanlagen. In Kursk werden neue russische Einheiten zusammengezogen. Charkiw wird bombardiert, mehrere Zivilsten sterben. Selenskyj entlässt den Chef der ukrainischen Luftwaffe. In Belgorod sterben mehr als fünf Zivilisten in ukrainischem Artilleriefeuer. Samstag: Die Angriffe Artillerieangriffe auf Schebekino werden fortgesetzt. In Donezk fällt mit Kirowe die nächste Stadt, auch Tschassiw Jar steht weiter unter Beschuss, mindestens fünf Zivilisten sterben. Lenkbomben explodieren in Charkiw. Und auch Pokrowsk wird mit andauernden Angriffen überzogen. Inzwischen sind mehr als 66.000 russische Soldaten gefallen. Sonntag: Beim Kraftwerk Konakowo (bei Moskau) schlagen ukrainische Drohnen ein. Am Mittag wird die „Befreiung“ zweier weiterer Orte im Donbas (Ptytsche und Wjimka) verkündet. Der Kreml glaubt nicht an einen schnellen Vermittlungserfolg, auch nicht wenn Trump der nächste US-Präsident wird. Am frühen Nachmittag schlagen russische Raketen in Charkiw ein. Der dritte Kriegsherbst hat begonnen.

 

Noch eine Stunde bis zum (Vor-)Bürgerkrieg,
dann werden nämlich die ersten Prognosen veröffentlicht.
Bis dahin wollte ich ja eigentlich beim Abbauen der Hölle helfen.
Als ich aber vorhin pünktlich zur verabredeten Zeit
auf dem Markt ankam,
war erstens schon alles abgebaut
und zweitens verwickelte mich
ein Real World Meme
in einen deprimierenden Dialog.
Davon erzähle ich jetzt noch schnell,
und dann beginnt er leider doch tatsächlich,
der Deutsche Herbst;
wenn Politik und Krieg
sich nicht mehr unterscheiden lassen.

 

Marvin Says (hidden story)

Der Brillenträger stand mitten auf dem Marktplatz in der Sonne, die Gassen ringsum waren bereits fast so kühl, wie sie es im Herbst sonst immer gewesen waren, und von der „Hölle“ war nur noch eine kleine Bühne übrig geblieben, die Hamburger Gitter standen bereits alle sauber und aufgeräumt vor dem Rathaus. So sehr er auch suchte, der Brillenträger konnte keinen seiner Teamkameraden entdecken, aber offensichtlich gab es hier auch nichts mehr zu tun, außer in der Sonne rumzustehen. Er ging an den Kaffee und Aperölchen trinkenden Touris vorbei, zwischen ihnen saß auch die eine oder der andere Triatleth*in und regenerierte die müden Glieder mit isotonischen Flüssigkeiten aller Art und Farbe. Kurz nachdem er den Zigarettenautomaten am Palais Salfeldt ganz leicht erleichtert hatte, wurde er auf Augenhöhe von der Seite angequatscht, jedenfalls wollte es wenige Stunden später seine Erinnerung so.
„Unglaublich, es ist sogar noch schlimmer als ich dachte, dass es werden würde.“
Der Brillenträger musste den Ursprung der Stimme zunächst noch suchen, und fand ihn erst, als er sah, wie das Graffiti eines Marvins (Hitchhiker’s Guide to the Galaxy), angeklebt an eine Regenrinne, sich wie von Zauberhand bewegt bewegte. „Wie bitte?“
„Du hast schon richtig gehört, ich kann doch auch nichts dafür. Oder?“
der Brillenträger sah sich nach zu nahen Touriohren um, dann antwortete er: „Nein, Marvin. Nichts davon ist deine Schuld. … Aber was genau ist denn gerade so schlimm?“
„Was? Na alles? Wo soll ich denn da anfangen?“
„Keine Ahnung. Wie lange klebst du denn schon hier?“
„Erst seit Freitag Nachmittag, aber trotzdem fühle ich mich schon völlig am Ende.“
„Wegen der Hölle?“
„Nee, aber wegen dem Gequatsche darüber.“
„Ach, Marvin, du willst mir doch nicht erzählen, dass in den zwei Tagen nicht auch was schönes passiert ist. … Zum Beispiel diese Hochzeit am Freitag Abend. Da hast Du doch hier im schattigen Rücken des Rathauses bestimmt was spannendes mitgekriegt, oder?“
„Wie denn? Bei dem Krach! Hast du den Hochzeitssänger etwa nicht gehört, wie er hier den ganzen Abend bei Nieselregen die Gäste angefaucht hat?“
„Doch, habe ich, aber ich dachte, vielleicht klingt es ein paar Hauswände weiter irgendwie besser.“
„Klang es nicht. … hast du noch ein paar Minuten? Es tut gut, wenn jemand zuhört. Die meisten die hier vorbeilaufen sind zu sehr mit sich beschäftigt.“
„Klar“, der Brillenträger suchte sein Feuerzeug, fand es in seiner linken Hosentasche und signalisierte mit dem Entzünden seiner Zigarette, dass Marvin loslegen sollte, „ich höre.“
„Schön. Warst du schon mal in Brasilien?“
„Nein.“
„Solltest du auch nicht sein. Zumindest nicht im Sommer. El Nino sorgt da grade für die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten. Ernteausfälle, nicht ausreichend Weidegrün, ausgetrocknete Flüsse, verendendes Wild und natürlich unkontrollierbar viele Brände. Die Luft in einem Drittel des Landes ist wie dreckiger Nebel. Ich bin 37 bis 42 mal älter als das Universum, aber so schlecht hat die Zukunft einer Spezies auf einem Planeten noch nie ausgesehen.“
Der Brillenträger wusste sich nur in Optimismus zu flüchten, egal wie wenig er mit dem Problem zu tun hatte: „Ja, stimmt, aber, Marvin, Brasilien ist dafür aber auch das nächste, sehr große Land, das Elon Musks X komplett sperrt.“
„Na toll! Der selbe Elon Musk, der jetzt die Star Fleet Academy real machen möchte? Hältst du das etwa für eine gute Idee?“
„Nein. … Aber, Marvin, vielleicht kannst du ja darüber lachen: Kennst du den Schwarzen Poeten schon?“
„Meinst du etwa diesen Rick von Regal?“
„Du kennst ihn?“
„Ob ich ihn kenne? Was denkst du? Seit Wochen liest der mir hier seine Gedichte vor. Es ist selten schlimmer, dass ich hier festgeklebt bin.“
„Kennst du dann auch schon sein neuestes? „Klopstocks Erbe“?“
„Oh, bitte nicht. Gibt es das etwa? Von ihm?“
„Jap. Geschrieben vor, während und nach seiner Soliaktion im Brühl.“
„Ist die Klopstockbüste etwa schon wieder restauriert?“
„Nein, aber der Schwarze Poet und ein paar neue Freunde haben einen kurzen Werbefilm für’s Internet gedreht, darüber wie sie am Denkmal fegen und Blumen pflanzen. Als ob Klopstock auch nur irgendwas mit der Romantik, geschweige denn der Schwarzen zu tun gehabt hätte.“
„Schlimm, wenn nicht mal sowas mehr noch Bedeutung hat. Aber eigentlich auch nicht schlimm. Was dann schon wieder schlimm ist.“
„Ach, Marvin, was ich dich schon die ganze Zeit fragen will: Kriegst du hier, so nah dran am Rathaus eigentlich auch was von den Stadtratssitzungen mit?“
„Na, was denkst du wohl? Alles! Das ist ja das schlimme. … Bevor du fragst: Ja, die wollten sich tatsächlich nur ein paar Wochen nach der Wahl erstmal die Diäten erhöhen. Und nur das Bürgerforum und Die Partei haben dagegen gestimmt, wenn ich das richtig verstanden habe bei der Heimlichtuerei da drinnen.“
Der Brillenträger schaute unauffällig hoch zur Marktuhr, es war kurz vor Sechs. „Marvin, ich müsste dann mal langsam los, sonst verpasse ich noch die schlimmsten Nachrichten des Jahres.“
„Wieso? Haben sich Oasis etwa wieder zusammengetan?“
„Woher weißt du das?“
„Stimmt das etwa?! Und ich dachte, das Wochenende könnte nicht noch schlimmer werden.“
„Du weißt noch nicht, was die Tickets gekostet haben, die nach zwölf Stunden bereits ausverkauft waren.“
„Lass mich raten: Working Class war einmal?“
„Ja. Und schlimmer.“
In diesem Moment schlug die Marktuhr sechs mal. Der Brillenträger schlenderte nach Hause und Marvin schaute weiter traurig nach unten. Über das Pflaster wirbelten die ersten gelben Blätter.

 

Na dann,
bevor jetzt die ersten Prognosen und Hochrechnungen
und erst in vielen Stunden irgendwelche deprimierenden Ergebnisse folgen,
nur noch schnell die alles sagende Info,
dass die AfD-Wahlparty in Erfurt komplett ohne Journalisten stattfindet.
Die Sicherheitslage in der Stadt
ist mehr als angespannt,
hunderte gewaltbereite Straßenkämpfer,
Faschisten und Antifaschisten,
warten auf den Kampf,
an elf(!1!!) Wahllokalen in Erfurt steht immer noch:
„Höcke ist ein Nazi“.
1931, here we go again?

Prognose:
Sachsen:
Es reicht für Schwarz-Rot-Grün,
Rechtsextreme: Genau 30%.
Thüringen:
Rechtsextreme: Mehr als 30%.
Es reicht für eine Minderheitsregierung
CDU-SPD-Linke (toleriert vom BSW).

20 Uhr Hochrechnung:
Sachsen:
CDU: 31,7%
AfD: 30,6%
BSW: 12%
SPD: 7,8%
Grüne: 5,2%
Thüringen:
AfD: 32%
CDU: 24,2%
BSW: 15,7%
Linke: 12,6%
SPD: 6,4%

Ach, Marvin,
es ist Herbst.
Und Herbst
ist immer gleich.
Fortsetzung folgt.

 

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