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The Graduate oder: No more sleep in Friedrichshain

von | 2023 | 7. Mai | Berliner Kurzgeschichten, Die Kurzgeschichten

(Foto: Tobias Peuke. April 2023)

 

 

„Maybe I’ll leave this town
when my fears become too strong … „

 

 

Teil 1 – Wachstumsschmerzen

Charité, vor vielen Wochen

 

Die Gastgeberin und der andere Brillenträger warteten am Ende des Winters in der Klinik auf den Vorgeburtsstress. Ihr Termin war Anfang/Mitte Mai. Für die noch ausstehenden Untersuchungen musste die Gastgeberin nur die Etage der Klinik wechseln, sie war in den besten Händen. Ihre Hebamme war großartig, und bis kurz vor Geburt wollte sie weiterarbeiten. Ihre neue Forschungsstelle bot dafür beinahe ideale Bedingungen, auch wenn das Sitzen auf Dauer auch seine unangenehmen Seiten hatte. Zu Hause, im Friedrichshain, war bald alles vorbereitet; sie hatten sich schnell darauf geeinigt, das Kinderzimmer, bis vor kurzem das Gäste- und Arbeitszimmer, nicht auch noch frisch zu streichen. Vielleicht würden sie ja doch noch eine andere, schönere Wohnung irgendwo am Boxi finden, irgendwann in den nächsten Jahren.
Der andere Brillenträger traute sich kaum, darüber nachzudenken, wie viel Glück sie bis jetzt hatten, wie reibungslos doch alles lief, ganz so als ob es so geplant gewesen wäre. Irgendwo musste doch eine Schattenseite dieser Zukunft lauern, irgendeine sich ankündigende Eintrübung ihres Glücks, ohne die sich das Leben gar nicht denken lässt. Aber egal wo er suchte, die Abwesenheit von wirklichen Problemen erschien ihm allgegenwärtig. Ob er in der Wilmersdorfer Praxis saß, oder seinen Mittag in Charlottenburg oder Mitte verbrachte, ob er Hausbesuche machte, oder an Videokonferenzen teilnahm, oder ob er am Abendbrotstisch Fernsehen auf dem Laptop schaute, nirgends fand er auch nur den Anschein von wirklichem Stress. Was natürlich nicht bedeutete, dass er selbst nicht gestresst war. Dagegen war noch kein Mittel gefunden. Brauchte es auch nicht, denn er brauchte seine Nervosität, ohne sie wäre er schließlich nicht er selbst. Vielleicht war es ja aber auch genau das, was echte Berliner*innen ausmachte. Den äußeren Stress dieser Stadt nicht nur aushalten zu können, sondern ihn vielmehr als stabiles Hintergrundrauschen wahrzunehmen, das dafür sorgte, dass der Puls im Takt Berlins schlägt. Und sobald die Herzrhythmusstörungen beginnen, sollte man die Flucht ergreifen.

Der rhythmische Herzschlag ihres Sohnes ultraschallte durch den Untersuchungsraum der Geburtsstation. Schnell und aufgeregt, wie der seiner Eltern. Die untersuchende Ärztin lächelte zufrieden. Der andere Brillenträger sah, wie sich ihr Sohn inzwischen in eine gute Lage gebracht hatte, und fragte nur noch ein mal vorsichtig nach der Nabelschnur, von der er wusste, dass sie anatomisch vorteilhafter hätte beschaffen sein können. Doch die Ärztin beruhigte die beiden, es gebe keine Anzeichen von Unterversorgung mehr.
Ganz ohne Angst verließen sie die Klinik nie. Und sie erkannten bei jedem Mal, dass diese Angst sie bis an ein Lebensende nie verlassen würde. Sie schickten sich nun also an, diese letzte Angst zu meistern, für die es nur ein Wort gibt: Elternliebe.

 

 

 

 

Teil 2 – The Berlin Angst

Friedrichshain, vor ein paar Wochen

 

 

„Doch auch wenn andere Städte scheiße sind:
Ich will nicht nach Berlin.
Und ich damit komplett alleine bin:
Ich will nicht nach Berlin.
Auch wenn da alle meine Freunde sind:
Ich will nicht nach Berlin.
Will ich nicht nach Berlin?
Ich will nicht nach Berlin.“

(Kraftklub. 2012)

 

Jahrelang hatte der andere Brillenträger allen, die es hören wollten, immer sehr gerne erzählt, dass, und vor allem warum, er niemals nach Berlin gehen würde; dann doch noch lieber nach Hamburg. Das Problem lag allerdings von Anfang an auf der Hand: Berlin war einfach zu cool, um darin uncool sein zu können, und je mehr er sich bemühte, das Gegenteil zu beweisen, und im Vorbeimarsch sogar Hannover aufcoolte, sein Weg hatte ihn letztendlich doch hierher geführt, und aus seinem glühenden Hass war schnell noch glühendere Liebe geworden, die versprach, niemals zu enden. Berlin kann das. Man kann vieles aus Prinzip schlimm finden, aber eben nicht diese Stadt.
Den Geburtsvorbereitungskurs besuchten sie an einem Wochenende im viel zu kalten Frühling. In einer geräumigen Wohnung im Friedrichshain waren zehn Elternpaare und zwei Hebammen versammelt. Der andere Brillenträger fragte sich, wie wahrscheinlich alle anderen auch, was die anderen denn so machten, außer zum ersten Mal Eltern zu werden. Aber darüber sprachen sie erst am zweiten Tag. Eines der dominierenden Themen des ersten Tages war aber immer wieder die Frage, ob die Eltern in Berlin bleiben würden, oder eben doch nicht. Nur eines der Paare war übrigens auch selbst aus Berlin. Bei der guten Hälfte der Paare lief es darauf hinaus, möglichst bald (wieder) aus der Stadt wegzuziehen; auf’s Land, oder gleich zurück in eins der beiden Elternhäuser, oder in ein neues, in der Nähe der Großeltern. Die anderen Paare waren sich noch unsicher. Nur die Gastgeberin und der andere Brillenträger nicht, was die anderen mit stillem Respekt beantworteten. Um sich von ihrer Großstadtangst abzulenken, führten sie dann auch Scheindiskussionen über die Wahl des richtigen Krankenhauses, die schnell politische Differenzen sichtbar machte. Für Einigkeit sorgten dann erst wieder die geschlechtshomogenen Gruppierungen.
In der Männerrunde gab die Hebamme schnell an den anderen Brillenträger ab, der sich in der Position wiederfand, anderen Männern ihre männlichen Ängste zu erklären, von denen er jede einzelne schon hunderte Male analysiert und erklärt hatte, und die darüber hinaus jetzt auch seine ganz eigenen waren. Dankbar gab er dabei das Wort weiter. Das Eis war gebrochen, als der jüngste Vater etwas verspätet zur Runde stieß, die gerade dabei war, ihre Privilegien zu checken: „Also mit Anfang zwanzig hätte ich das nicht geschafft.“ Der verspätete stellte sich vor und ergänzte lachend: „Und in diesem Sommer werde ich 23.“

Am zweiten Tag wurde es dann, zumindest soziologisch interessanter, als da unter anderen gewesen wären: Eine sichtbar verunsicherte Mitarbeiterin einer Öffentlichen Medienanstalt und ein ITler, aus Mitte. Aber trotz Volksbühne, Torstraße und dem gesamten anti-hippen Flair des Rosenthaler Platzes, schienen sie genauso fehlbar wie alle anderen und waren sympathisch genug, daraus auch keinen Hehl zu machen. Was die Berlinfrage anging, waren sie sich anscheinend noch uneins. Entschieden hatten sich dagegen ein Roadie, der in den letzten Jahren trotz allem einen Weg gefunden hatte, seine Lebenslust nicht zu verlieren, und eine ITlerin, deren Elternhaus im Emsland einfach zu gut war, um sich nicht dafür zu entscheiden; ein neues Nordlicht, genährt durch den Strom Berlins, der Rest ihres Lebens an der Küste. Für ein weiteres Paar lag die Entscheidung zwischen Berlin oder dem Thüringer Wald. Nico, dessen Freundin Kim schon nicht mehr nur  im Maschinenraum der Social-Media-Industrie arbeitete, und also Berlin im Grunde brauchte, wie das Internet das Alphabet, hatte die Wahl zwischen einem guten Leben im grünen Herzen Deutschlands oder der rot leuchtenden Arterie des Kontinents.
Der andere Brillenträger hörte genau zu, so wie er es nicht anders konnte. Sein geheimes Vorurteil hatte er am zweiten Nachmittag gefällt, und es brauchte einiges an Professionalität, es nicht nach außen dringen zu lassen. Leider zu viele der Paare würden ein Problem auf die Welt bringen. Nicht für die Welt, sondern für sich selbst. Ein Problem, das sich genauso wie alles andere im Leben lösen lassen musste. Lösen lassen würde, wenn man denn das „richtige“ tat. Nur davon hatten zu viele der Paare die falschen Vorstellungen. Und er hoffte nur, dass er keinem dieser Paare jemals beruflich begegnen müsse. Aber die Angst würde sie wieder finden, egal wie weit sie davor fliehen würden. Und dann würden sie tun, was die meisten von ihnen gelernt hatten zu tun: Funktionieren. So lange, bis sie kaputt gingen, bis die Angst sie doch noch, ganz langsam eingeholt hat. Und dann würden sie die Schuld bei irgendjemandem suchen, und letztlich würden sie sie finden, in irgendeinem Koffer, den sie in Berlin haben stehen lassen.
Die Gastgeberin und der Brillenträger hätten eines der Paare beinahe nach ihren Nummern gefragt, aber es war zu offensichtlich, dass alle in nächster Zeit sowieso keine Zeit, also im Sinne von gar keine Zeit, mehr für Partys hatten. Und die Wahrscheinlichkeit, sich in ähnlicher Runde nochmal wieder zu treffen, lag bei den in Berlin üblichen 0%.

 

 

Teil 3 – Old German Angst

bei den kommenden Großeltern
in Hannover und Thale, am vorletzten Wochenende

 

Als sie durch den westlichen Teil der Stadt, am Funkturm vorbei und über die Avus nach Hannover fuhren, stellte der andere Brillenträger beim Blick in den Rückspiegel zum x-ten Mal leicht erschreckt fest, dass da schon ein Kinderwagen im Kofferraum steht. Die Sitzschale hatten sie aber voll Hoffnung noch in Berlin gelassen.
Bei den angehenden Großeltern war natürlich die Namensgebung das absolute Lieblingsthema. Mit nur einem Wort ein ganzes Leben bestimmen, wann kommt man schon dazu? Mit einigen Verwandten erlaubten sie sich dann, nach der fünften Erklärung, Begründung und Verteidigung ihrer Wahl, den ein oder anderen Scherz. Dabei kam dieser Vorschlag am besten an: Torsten Wiesengrund Prillenträger. Die meisten lachten nicht, weil sie den Witz gleich oder überhaupt verstanden hatten, sondern weil der Name einfach zu absurd/unabsurd lustig war. Einem anderen Verwandten tischten sie dann noch Jewgeni auf, und brauchten einiges an Anstrengung, um die sich daraufhin entfachende Antirusslandtirade wieder einzufangen. Das ansonsten friedlich und heiter verlaufende Familientreffen, auf dem aus Rücksicht auf die Gastgeberin nur verhalten am Crémant genippt wurde, bot selbstverständlich auch allerhand Raum für nur die allerbesten Ratschläge, von denen auch alle wussten, dass sie auch nur Schläge sind, und die sie trotzdem allesamt teilen wollten, oder vielleicht auch deswegen. Schließlich war es noch keine hundert Jahre her, dass damit der Nachwuchs erzogen wurde. Schließlich sollte der es doch besser haben als man selbst. Aber alle waren auch froh darüber, dass niemand hier vor hundert Jahren leben musste. So viel Angst wollten sie sich nicht mal einreden lassen. Nicht mehr.
In Thale warteten andere, uralte Ängste, die nichts mit der Zukunft zu schaffen hatten. Und die der andere Brillenträger trug, wie nur ein Vater sie tragen kann.

 

 

Teil 4 – Bye, Bye Kummer

Charité, Sonntag vor einer Woche

 

Den Morgen der Berliner Walpurgisnacht verbrachten sie auf dem Markt am Boxhagener Platz. Die Sonne hatte es zum ersten Mal in diesem Jahr geschafft, ernsthafte Sommerwehen erahnen zu lassen. Die Menschen trugen Sonnenbrillen und lachten sich trotzdem an, wenn sie sich an jeder der vier Ecken wiedertrafen. Die Stimmung war auf über 20°C geklettert, der Kaffe brauchte nicht mehr zu wärmen, und schmeckte trotzdem. Die Gastgeberin ließ sich zum Mittag zu einem Foto mit Softeis einladen. Ihr Termin war erst in über einer Woche.
Und während in der Stadt die Polizeieinsätze begannen, und der Schwarze Block sich zum Vorglühen traf, setzten am frühen Nachmittag die Wehen ein. Die ersten drei innerhalb einer Viertelstunde. Danach pegelten sich die Abstände wieder auf eine Viertelstunde ein. Der andere Brillenträger setzte eine letzte Nachricht ab, die auch der Brillenträger auf dem Weg nach Quedlinburg empfing: „Seit halb drei ist sie stark.“ Der Brillenträger wusste, dass es sich erübrigte, ein fragendes „Seit?“ als Antwort zu schicken, und beließ es bei einem schlichten, genau so wahren wie unwahren: „Bin bei Euch.“
Danach las, sah oder hörte der Brillenträger nichts mehr vom anderen Brillenträger oder der Gastgeberin. Es ging also alles gut. Erst am Abend des nächsten Tages, in diesem Jahr ein Montag, verschickte der andere Brillenträger Bilder ihres Sohnes in alle Welt: TWP. Erster Mai 2023. Berlin.

 

 

Teil 5 – Should I Stay or Should I Go?

Berlin/Quedlinburg, heute

 

Am provinziellen Schreibtisch wartete der Brillenträger nebenbei auf Neuigkeiten aus seiner Geburtststadt und wertete ihr Ausbleiben als bestes aller Zeichen. Zum Chronikschreiben war ihm in diesen aufregenden Tagen nicht zu Mute, alles hätte nur Konterkarikatur zum Glück ihrer Gegenwart sein können. Nur eine Frage blieb weiter unbeantwortet: Where do we go from here? Wie viele Möglichkeiten blieben ihnen noch und wie schnell wurden sie weniger? Oder wurden sie wieder mehr? Hatte sich die Zeit verdoppelt? Erlebten sie die Welt jetzt mit einem Paar Augen mehr? Und wonach würde sich dessen Blick sehnen?
Der Brillenträger löste sein Starren. Auf dem Bildschirm vor ihm sammelten sich noch sehr lose die Skizzen für die nächste Episode. Er löschte sie kurzerhand und ließ nur einen einzigen Block stehen. Wegen Gründen.

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 62.
Die Gegenoffensive beginnt. Nur die Panzer stehen noch still. Montag: Wieder Luftalarm in der gesamten Ukraine, in drei Regionen explodiert die Nacht (Kiew, Dnipropetrowsk, Sumy). Russland baut die eigene Landesgrenze zur Ukraine zur Festung aus. Bei Bjransk entgleist ein Güterzug nach einer Explosion. Stromausfälle in Cherson und Dnipro nach russischen Raketenangriffen. Resnikow: „Die Gegenoffensive ist bereit.“ Die USA wissen: Russland hat in Bachmut 100.000 Soldaten verloren. Dienstag: Die USA korrigieren: Es waren 20.000. Weiterer Beschuss in Bjransk. Russland verdoppelt die Produktion von Hochpräzisionsraketen. Riesen Militärübung in Polen (12.000 Soldaten). Das Kriegsrecht in der Ukraine wird bis Mitte August verlängert. Mittwoch: In der Nacht brennt das nächste Treibstofflager in Russland, dieses mal in Krasnodar am Asowschen Meer. Kiew und Cherson werden weiterhin mit Drohnen angegriffen, aus Richtung Bjransk und dem Asowschen Meer. In Bjransk entgleist der nächste Zug. Ansonsten richten sie die Angriffe auch wieder vermehrt gegen die ukrainische (Rüstungs-)Industrie. Cherson wird ab Freitag Abend über das Wochenende abgeriegelt (Ausgangssperren). Selenskyjs Besuch in Berlin, in zwei Wochen, wird vorher verraten; „Bald werden wir in die Offensive gehen und danach wird man uns Flugzeuge geben.“ Moskau meldet einen Drohnenangriff auf den Kreml. Aus der Ukraine heißt es, sie habe damit nichts zu tun. Die USA „wissen es einfach nicht“. Prigoschin bestätigt den Beginn der Gegenoffensive. Erneuter Luftalarm über der Krim. Medwedew schießt auf Telegram den nächsten Vogel ab: „Nach dem heutigen Terrorakt gibt es keine andere Variante als die physische Eliminierung Selenskyjs und seiner Clique.“ Selenskyj sei „zur Unterzeichnung der Kapitulation der Ukraine nicht zu gebrauchen. Wie bekannt ist, hat auch Hitler keine (Kapitulation) unterschrieben.“ Donnerstag: Der nächste Öltank auf der Krim brennt (Ilski). Die Drohnen-angriffe nehmen weiter zu, die meisten werden abgefangen, nur die Universität in Odessa wird getroffen. Laut dem US-Institut für Kriegstudien war der Drohnenangriff auf den Kreml inszeniert; der Kreml beschuldigt derweil die USA selbst, Washington weist das zurück. Der Bürgermeister von Odessa wird wegen Korruption verhaftet. Das CIA erwartet weiterhin keinen Atomschlag Russlands. In und um Bachmut wird immer noch gekämpft. Selenskyj besucht den niederländischen König. Am Abend wieder Luftalarm in Kiew und Schüsse in der Innenstadt. Freitag: Der Luftalarm war durch eine ukrainische Drohne ausgelöst worden. Das Öllager in Ilski brennt erneut. Prigoschin eskaliert den Beef mit dem russischen Militär weiter: „Ihr Biester, ihr sitzt in teuren Clubs, eure Kinder haben Spaß am Leben und nehmen Youtube-Clips auf.“ Dann kündigt er den Rückzug von Wagner aus Bachmut für den 10. Mai an, es erfolge eine Übergabe an die russischen Truppen. Lawrow verkündet der Drohnenangriff auf den Kreml ist kein „casus belli“. Moskau ordnet die Evakuierung von Saporischschja an. Am Nachmittag ist wieder Luftalarm in fast allen Teilen der Ukraine. Kadyrow (Tschetschenien) bietet seine Söldnertruppe „Achmat“ als Ersatz für „Wagner“ an. Samstag: Weiter schwere Gefechte um Bachmut und Marjinka. Kiew hat in der Nacht eine „Kinschal“-Rakete abgefangen. Prigoschin nimmt Kadyrows Angebot an. Russland soll in Bachmut Phosphormunition eingesetzt haben. Über der Krim wird eine ukrainische Hrim-2-Rakete abgefangen. Sonntag: „Die Wagner-Kämpfer werden für die nächsten Operationen im Interesse Russlands erhalten bleiben.“ Vermehrte Drohnenangriffe auf die Krim, alle werden abgewehrt. Wieder Luftalarm über großen Teilen der Ukraine. Plötzlich heißt es aus Moskau, Wagner werde jetzt doch wieder voll aufgerüstet, sagt Prigoschin, man könne in Bachmut bleiben. Dazu musste Kadyrow also nur einmal kurz bellen. In der Nacht haben russische Langstreckenbomber zum ersten Mal ihre Fracht entladen (Mikolajiw, Charkiw). Das Dorf Enerhodar, nahe des AKW Saporischschija, wird evakuiert; auch hier nehmen die Kämpfe zu. Die Lage an der Ostfront sei unter Kontrolle, sagt ein Oberkommandeur. Wagner werde demnächst maximaler Schaden zugefügt. Von Rückeroberung vorerst kein Wort mehr.

 

Der 1. Mai war also ein historischer Tag auf allen bekannten Ebenen gewesen, und vor allem auf einer ganz neuen. Der Brillenträger erinnerte sich an ihr letztes Gespräch. Bevor sich alles erneut für immer verändert hatte. Wie immer hatten sie dabei auch die neuesten Tipps füreinander. Der andere Brillenträger hatte endlich den Jazz für sich entdeckt, blieb aber auch der Moderne treu. Vor seiner Kamera hatte er euphorisch mit einer Platte aus der Dussmann-Exklusivreihe rumgewedelt. Klar kannte der Brillenträger die, schließlich war der Schlagzeuger von Schramm aus Quedlinburg. Dabei konnte er auch berichten, dass gleichzeitig das Mastermind von Apparat, also die bisherige internationale Musiksensation aus dem Weltkulturerbe (gleicher Schlagzeuger), im Geheimen bereits von Rückzug sprach. Auch der Kinder wegen. Als nächstes waren die Buchtipps dran. Der andere Brillenträger eröffnete eine Debatte darüber, ob es zum aktuellen Smashhit der Erziehungsratgeber, „Cool trotz Kind“, nicht auch das Pendant geben müsste, „Cool trotz ohne Kind“. Wenn schon Diversity, dann auch für wirklich alle. Der Brillenträger fühlte sich dadurch in seiner Lebensentscheidung tatsächlich irgendwie gestärkt. Zum Schluss hatte er seinen Freund ein allerletztes Mal gefragt, ob er bereit sei. Bereit für Berlin, mit Kind. Der andere Brillenträger hatte nur abgewunken. „Na wat denn sonst?“ Seine Koffer in Berlin waren endgültig ausgepackt. Und in irgendeiner Schublade lag sogar noch sein letztes Abschlusszeugnis, das er nicht erst jetzt schon lange nicht mehr brauchte.

Kurz bevor der Brillenträger seine Stunde auf der Couch anbrechen wollte, bemerkte er das Ankommen einer Sprachnachricht. Die Stimme des anderen Brillenträgers war klar und deutlich: „Alles gut. Bis auf derbste Müdigkeit. Wir telefonieren bald. Eine Bitte habe ich. Kannst du bitte, wenn Du über dieses Wunder schreiben solltest, eine Kurzgeschichte schreiben? So eine richtige Geburtstagsgeschichte, mit schneller werdenden Wehen und allem stilistischem Schnickschnack? Bisschen Joyce, bisschen Mitchell, bisschen Mann. Kannst du alles machen, wie du willst. Aber schreib bitte nicht zu viel über die Angst. Klar ist die da. Und deswegen brauchst du nicht noch weiter drauf eingehen. Und schreib bitte, bitte auch nichts über irgendeine letzte Stufe des Erwachsenwerdens oder das Erreichen irgendeiner Reife. Und vor allem, schreib bitte nichts über die vermeintliche Vollendung, die abschließende Prüfung vor der Vollendung als Mensch, oder schlimmer noch: als Mann. Du weißt, was ich meine. Bitte keine Replikationsmystik.“ Im Hintergrund der Atmosphäre hörte er das leise Greinen seines Sohnes und das ruhige und tiefe Atmen der Mutter. „Egal. Wir haben es jedenfalls geschafft. Haben alles. Und wollen nur noch eins: Schlafen. Hier. Zu Hause. Unter den Sternen über der Stadt.“

 

“ … maybe I’ll leave this town
when the last star falls.“

(Old Gray: The Graduate. 2013)

 

 

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