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The mother we shared (S6:Ep1)

von | 2021 | 26. September | Die Serie, Staffel 6 - Peace or Love

Es ist soweit!
Mutti zieht endlich wieder aus.
Und diese absolute Zumutung von Wahlkampf
ist vorbei.
Über den ließe sich wirklich noch so einiges sagen,
aber zum Glück brauche ich hier
ja keine Eulen nach Athen zu tragen,
und spannend war er ja immerhin.
Allemal aufregender
als die Neuverfilmung von Dune,
bei der seit der Premiere
schon einige Menschen
im Kino eingeschlafen sein sollen.
Wahrscheinlich zu erschöpft
von der Wirklichkeit.
2021:
Wenn die Welt
bei Science-Fiction
Entspannung findet.

Ab morgen ist dann aber
ein gehöriges Stück Spannung raus.
Leider nur, damit gleich wieder
die nächsten Bögen gespannt werden
(wer, mit wem, wozu, weshalb, warum?).
Aber wenigstens sind diese nervtötenden Wahlplakate
an jedem, aber auch wirklich jedem Laternenmast
endlich wieder verschwunden;
reicht doch auch,
wenn man im Internet
ständig damit zugeballert wird.
Ob das nach heute anders wird?
Oder haben die Parteien
endlich erkannt,
dass online-Werbung viel effektiver,
billiger und unkontrollierbarer ist?

Mutti jedenfalls
räumt im Neuland sicher nicht mehr auf.
Überhaupt kann sie endlich
die Lappen hinschmeißen.
16 Jahre auf diesen Sack Kartoffeln aufzupassen,
das war bestimmt nicht leicht.
Um‘s kurz zu machen:
Mitte August (noch vor dem Abzug aus Kabul)
hat eines der größten Meinungsforschungsinstitute (YouGov)
in fünf großen EU-Ländern und den USA gefragt,
wer denn der/die beliebteste Worldleader*in ist.
Auch wenn es bei der Konkurrenz
keine große Überraschung ist,
das muss man erst mal schaffen,
zumal als Kanzler*in von Deutschland.
Vor weniger als hundert Jahren
sah das bekanntlich noch gaaaaanz anders aus.
Dementsprechend hoch
sind die Erwartungen
an ihre Nachfolge:
Unerfüllbar.

Das muss auch die CDU geahnt haben,
denn was die ehemalige Regierungspartei,
allen voran ihr Kanzlerkandidat,
in den letzten Wochen und Monaten
veranstaltet haben, also ehrlich.
Man braucht nicht viel bösen Willen,
um dabei die nackte Selbstsabotage zu erkennen.
Und als hätte Armin Laschet nicht schon alles versucht,
um bloß nicht Kanzler zu werden
(und so den zukünftigen Schulterschluss
der Konservativen mit den Völkischen anzubahnen),
hat er es heute sogar noch fertig gekriegt,
seinen Wahlzettel ungültig zu machen,
indem er ihn falsch gefaltet in die Wahlurne gesteckt hat,
so dass alle sehen konnten,
was er denn gewählt hat.
Ein Teil von mir wartet noch darauf,
dass sich das ganze als Fake-News entpuppt,
doch ich befürchte,
die Demokratie ist ihm wirklich so egal,
wie diese erneute Gedankenlosigkeit es zeigt.
Aber, der Mann ist alt genug,
auf Mutti würde der sowieso nicht mehr hören.

Bevor es hier um das Ergebnis der Schicksalswahl
und eine erste, vorsichtige Einschätzung gehen soll,
kann nicht unerwähnt bleiben,
dass in dieser Woche schon wieder
zu viel richtungsweisendes passiert ist,
um nicht völlig die Orientierung zu verlieren.
Zum Beispiel der Weltklimastreik.
In der 162. Woche
waren allein in Deutschland am Freitag
620.000 Menschen auf der Straße.
Auch wenn der Hungerstreik einiger Aktivisten
kurz zuvor nach fast zwei Wochen beendet wurde,
der Atem dieser Bewegung ist erstaunlich lang,
was auch zeigt,
dass sie die neue Regel der Meinungsbildung
verinnerlicht haben:
Wer länger durchhält, gewinnt (vielleicht).
Denn immerhin sind Die Grünen
ziemlich sicher wieder Teil der Bundesregierung.

Deutlich weniger Hoffnung
gab es dafür bei der UN-Vollversammlung,
die ganz klimaneutral,
endlich wieder in Person stattfinden konnte,
mit Buffet in der Lobby.
Der versammelten Weltelite
wurden da vom Generalsekretär
aber mal gehörig die Levithen gelesen:
Im Hinblick auf die globale Pandemiebekämpfung
sagte er: „In Ethik versagt.“
Japp, das kann und muss man so ausdrücken.
Wichtiger für die Versammelten ist
hingegen der Blick nach vorn:
Joe Biden ist es ein Bedürfnis zu betonen,
dass es keinen neuen Kalten Krieg mit China geben dürfe.
Dazu zwei Fragen:
Keinen neuen?
Gab‘s mit denen denn schon mal einen?
Und warum wird ein heißer Krieg
nicht gleich mit ausgeschlossen?
Dass an der Südgrenze der Staaten
inzwischen schon wieder Cowboys mit Peitschen
Jagd auf Einwanderer machen,
davon schweigt er lieber.
Und auch sonst wird über vieles geschwiegen,
in dem man es nur zu einem weiteren Punkt
auf der Tagesordnung degradiert.
Lieber Beteuerungen auf allen Seiten.
Relativ gesehen wird es schon besser werden,
man werde sich bemühen.
In China werden gleichzeitig lieber Fakten geschaffen,
denn die kommunistische Partei
hat de facto alle Kryptowährungen verboten.
Also, außer der eigenen.
Asiatisches Jahrhundert und so.

Im Grunde war diese Woche
aber natürlich eine Woche
ganz im Zeichen der Wahl:
Überall wurde alles mögliche gewählt.
Wenn es schon
keine Hoffnung im alten Sinne mehr gibt,
dann doch wenigstens
die Illusion der Mitbestimmung
darüber, in welcher Art von Toilette
denn nun genau
alles runtergespült werden soll.
In Russland bleibt es das gewohnte Klosett
(inzwischen auch schon mit regelmäßigen Massenshootings),
die Duma-Wahlen verliefen erwartungsgemäß.
Putin hat nicht mal geblinzelt.
Das selbe in Kanada,
auch wenn Justin Trudeau
ganz kurz Schweißperlen
über das frisch rasierte Kinn gelaufen sind.
Nur in der Schweiz
gab es beim Volksentscheid
mal was neues:
Auch dort dürfen gleichgeschlechtliche Paare jetzt fast alles,
was die anderen auch dürfen, sogar adoptieren.
Manchmal können Wahlen
ja auch so etwas wie Beruhigung bringen,
weil wenigstens mal kurz durchgezählt wurde,
wer jetzt noch alle Latten am Zaun hat.
In Israel, zum Beispiel, scheint es auch
nach 100 Tagen Acht Parteien-Koalition
irgendwie zu klappen.
Und Benjamin Netanyahu
vermisst auch keiner wirklich.

Wir sind immer noch nicht
beim großen Wahlergebnis
(Spannung!),
denn heute wurde hier auch
noch vieles andere entschieden:
In Berlin wurde ein neuer Senat gewählt
und darüber abgestimmt,
ob die Enteignung von Mietmonopolisten
vielleicht doch eine gute Idee wäre.
Und, oh Wunder, das hippe Berlin
wird ganz schön grün!
Gemessen an der Bioladendichte
aber auch nicht wirklich überraschend.
Fehlt nur die Enteignungswelle,
aber da dauert das Auszählen wohl noch länger…
Die Straßenmusiker im Mauerpark üben jedenfalls schon
heimlich „Wind of Change“,
aber rückwärts!
In Mecklenburg-Vorpommern
verlief soweit auch alles nach Plan:
Manuela Schwesig darf sich jetzt offiziell
Landesmutter nennen lassen.
Die Sozialdemokratie ist wieder auferstanden!
Links-Grün-Versifft ist
die Neue Normalität!
Danke Merkel!

Aber.
Das hier wäre nicht 2021,
wenn nicht das alles überschattende Thema in dieser Woche
ein ganz anderes gewesen wäre.
Nämlich der erste politische Mord
wider die globale „Corona-Dikatur“.
Und wo hat der stattgefunden?
In Texas?
In Moskau?
Nein, richtig: In Idar-Oberstein bei Trier.
Am letzten Samstag hatte dort ein 49jähriger Freak
einen 20jährigen Studenten erschossen,
nachdem dieser ihn wiederholt
auf die Einhaltung der Pflicht
zum Tragen eines Atemschutzes
in einer Tankstelle hingewiesen hatte.
Bei der Polizei gab der Mörder später an,
er habe „ein Zeichen“
gegen die Pandemiemaßnahmen setzen wollen,
die von „der Politik“ vorgeschrieben sind.
Als die Meldung dann das Internet durchschmorte,
und es Schuldzuweisungen von allen Seiten gab,
fiel dem Wahlkampfteam der CDU
übrigens nichts besseres ein,
als ein Video zu veröffentlichen,
in dem Armin Laschet dabei zu sehen und hören war,
wie er für den Dialog mit „Querdenkern“ warb;
als ob ein brutaler Angriff auf die Demokratie
pro Woche noch zu wenig wäre.

Bleiben wir doch gleich noch ein wenig
beim Thema Radikalisierung.
Denn die wird nach der Wahl,
oder „nach Corona“
nicht einfach plötzlich wieder verschwinden.
Ein gutes, und auch nicht ganz so martialisches Beispiel
ist der Versuch einer Schulgründung bei Rosenheim.
Die „Querdenkerschule“ hat sich
nach Bekanntwerden zwar selber wieder geschlossen,
aber: Trotz Absage der Behörden
auf Gründung einer Ersatzschule
wurden dort für etwa einen Monat
50 Kinder unterrichtet.
Ohne Tests, ohne Masken,
ohne staatliche Aufsicht.
Angeblich wäre das möglich gewesen,
weil sich die Schule
auf russischem Hoheitsgebiet befunden hätte.
Für „Querdenker“ ist Demokratie
halt die Villa Kunterbunt,
nur ohne bunt.
Womit wir dann endgültig
in der Provinz angekommen wären.
Und auch hier gibt es brisantes zu berichten;
angereichert mit ein paar wilden Gerüchten.
Denn angeblich kann man ja so lange
schwarz auf schwarz auf schwarz malen,
bis Komplementärfarben zu sehen sind.
Im Harzkreis jedenfalls
zeichnet sich momentan ähnliches wie in Rosenheim ab.
Sogenannte „Freilerner“ suchen ihr Heil
in einer Schrebergartenkolonie.
Unterstützt werden sie dabei angeblich
von einem Waldorfpädagogenpaar,
das erst kürzlich von eben einer solchen Waldorfschule
vor die Tür gesetzt wurde.
Der Grund waren nachweisliche Verbindungen
ins ganz, ganz rechte Lager
und eine Menge an weiteren Vorfällen,
die das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht hatten
(zum Beispiel das Absingen
des Rudolf Heß-Liedes im Unterricht).
Und um dem ganzen
noch die verschwörungstheoretische Krone aufzusetzen,
soll eben dieses Pädagogenpaar
angeblich erst in dieser Woche,
gleich hier bei mir die Straße runter,
beim Thüringischen Pfarrverein zu Abend gespeist
und bei Rotwein und Kerzenlicht
ganz ernst dreingeschaut haben.
Der mitteldeutsche Bibelbelt
stinkt nur so nach Radikaliserung.
Eine Spur harmloser geht es aber schon noch,
was jedoch nicht weniger gruselig ist:
Der überregional bekannte Sagenerzähler aus der Gegend
gab nicht nur eine Wahlempfehlung für „Die Basis“ ab,
obwohl er zeitgleich behauptete,
eigentlich ja unpolitisch zu sein,
nein, er fabuliert auch im Internet
irgendwas von standesrechtlichen Erschießungen
angeblich korrupter Politiker,
die er aber natürlich nicht befürworten würde.

An dieser Stelle dann mal noch ein kurzer Einwurf.
Thema: „Impfpflicht durch die Hintertür“.
Da stimme ich den Leerdenkern nämlich zu.
Allerdings mit anderen Schlussfolgerungen.
Das ganze 2-G, 3-G Geschwafel
ist nämlich ziemlich verlogen.
Denn natürlich wird dadurch gesellschaftlicher Druck erzeugt,
das ist ja auch die Absicht.
Ehrlich, es wäre besser, Nägel mit Köpfen zu machen.
Nein, keine allgemeine Impfpflicht,
aber eine in den gesellschaftlich relevanten Berufen,
also im Gesundheitswesen,
der Bildung,
der Versorgung und Verwaltung.
Wahrscheinlich wird es aber
wie mit dem Tempolimit:
Alle anderen machen es,
hier wird die Freiheit verteidigt.

So.
Jetzt aber.
Newsflash!
Die ersten Hochrechnungen!
Es hat geklappt:
Zumindest der „Linksrutsch“ ist verhindert.
Die AfD immer noch über 10%.
Schöne Scheiße.
Wer die Wahl jetzt gewonnen hat,
das ist tatsächlich so knapp wie egal:
Nach dem Krimi bleibt vor dem Krimi.
Mindestens vier Wochen Sondierungspoker!
Denn egal, was heute noch passiert,
mein eigentlicher Tipp
steht schon wieder auf der Kippe:
Vor Stunden noch war ich mir fast sicher,
und hatte schon angefangen mich damit zu arrangieren:
Wir haben eine „Ampel“ gewählt.
Rein mehrheitsmäßig wäre das wohl auch so.
Aber an Koalitionen ist von Rot-Schwarz
bis Schwarz-Rot-Gelb alles drin.
Da müssen Die Grünen das Lied
„An uns kommt keiner vorbei“
wohl noch ein bisschen lauter singen.
Und wie wäre denn dann eigentlich
so eine richtig stabile Koalition
(die größte Mehrheit hat immerhin Rot-Schwarz-Grün)?
Für einen humaneren Turbokapitalismus
und gegen die Extreme?
Die CDU kann doch auch mal SPD spielen, oder?
Nein, da wird von der „Zukunftskoalition“
(ehemals „Jamaika“) schwadroniert,
denn die FDP ist, wie erwartet der Königsmacher.

Mutti ist das bestimmt alles nicht egal,
aber ab heute sagt auch keiner mehr was,
wenn sie ihren Feierabend
schon mittags bei Bier im Garten genießt.
Immerhin waren heute nochmal fast 25 Grad,
und abends gab es nicht mal Gewitter.

Zum Abschied aber nicht nur Lob,
denn eins steht seit heute auch fest:
Angela Merkel ist es doch nicht ganz gelungen,
das alte Westdeutschland wirklich zu sozialisieren.
Ein paar Jahre sah es ganz gut aus:
Die Jungs auf den Bänken
machten zähneknirschend mit.
Bei der Abschlussfeier aber
wird so viel Inventar kaputt gehen,
dass man den Laden
in ein paar Wochen schon
nicht mehr wiedererkennen wird.
Wenn Mutti schon nicht mehr
zum Aufräumen vorbeikommt,
vielleicht ruft sie aber doch ab und zu mal an,
um dran zu erinnern,
dass man nicht
mit den Schmuddelkindern
spielen soll?

„Never took your side.
Never cursed your name.
I keep my lips shut tight
until you go.
We’ve come as far
as we’re ever gonna get
until you realize
that you should go.“

(Chvrches: The mother we share. 2013.)

1 Kommentar
  1. Göran

    …spannend,spannend,spannend!

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