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Triumph des Willens (S5:Ep9)

von | 2021 | 25. Juli | Die Serie, Staffel 5 - How does it feel?

„Hello again.“

(Das Känguru)

Vorgestern fragte mich ein sehr guter Freund,
ob ich nicht vielleicht doch
einen am Sender hätte.
Nachdem ich ihm erklären musste,
warum ich am ersten Sonntag
der Sommerferien
am Nachmittag
nicht so wirklich Zeit hätte,
denn ich müsste schreiben,
da habe ich es selbst dann auch gemerkt…

Aber: Als ob das so einfach wäre!
#DieDoppeltenZwanziger gehen stramm
auf die 500 Seiten zu,
es fühlt es sich irgendwie wichtig
und immer noch richtig an,
weiterzumachen.
Und der permanente Zwiespalt,
der diesem Text hier
seinen Namen gegeben hat,
ist in der Staffelpause
nur noch größer geworden.
Noch weiter weg von dem Chaos,
das immer mehr um sich greift,
kann man nicht sein.
Wenn man in Quedlinburg am Schreibtisch sitzt.
Wenn man Freitag Abend
auf dem Freiplatz Körbe wirft.
Oder am ersten Sommerferientag
in Leipzig vor einer Parkbühne steht
und sein Glück kaum noch fassen kann.
Auf den Schwarzen Spiegeln
ist immer alles schlimmer als hier,
und immer öfter sogar noch viel schlimmer.
Man wird fast rot vor Scham, denn
hier ist alles gold.
Wetter gold,
Tourismus gold,
Inzidenzwerte gold.
Also absolut überhaupt gar kein Anlass,
sich über irgendwas aufregen zu müssen.
Höchstens darüber, dass die Tomaten
die Braunfäule haben,
es hat etwas zu viel geregnet.

Kaum vier Fahrtstunden entfernt gen Südwesten,
liegt ein Teil des selben Landes
immer noch in Trümmern.
Das ganze Land will helfen,
will anteilnehmen,
will spenden.
Und für dieses Wochenende
sind die nächsten Unwetter vorhergesagt,
auch wenn sie anscheinend weniger Regen mitbringen.
Die Zufahrtsstraßen zum Katastrophengebiet
sind eine Woche später restlos verstopft,
ganze LKW-Ladungen mit Spielzeug und Mehl
wollen in die Städte und Dörfer gebracht werden,
obwohl die erst mal ganz froh
über Strom und sauberes Wasser wären.
Und wer sonst, wenn nicht die Schwurbler,
mischen wieder ganz vorne mit
und erklimmen den nächsten Olymp der Opferrolle:
„Aber wir wollen doch nur helfen!“
Oberquerdenker Bodo Schiffmann
sammelt im afrikanischen Exil in wenigen Tagen
mehr als eine halbe Million Spendengelder ein
und heult dann auf Telegram rum,
dass keiner sein Geld will.
Der Wille sei doch da!
Seine Follower klagen derweil
im Netz die Bundesregierung an,
sie würde die Bürger zum Spenden aufrufen,
ohne selbst etwas zu tun.
Wie deutsch kann man eigentlich sein?

Womit wir bei dann schon bei einem Thema wären,
um das ich mich immer ein bisschen herum drücke.
Aber ohne das ich auch nicht auskomme,
ohne zu beliebig zu werden:
Deutschland.
Blöd halt,
wenn man Deutschlehrer ist,
der eher mit der Antifa
als mit dem preußischen Beamtenstaat
sympathisiert.
In diesem Jahr aber
werde ich noch des Öfteren
nicht darum herum kommen,
also deutschelt es heute schon mal etwas mehr.
Erstens, weil es noch exakt zwei Monate
bis zum Ende der nächsten Ära sind.
Und zweitens, weil heute
die Festspiele in Bayreuth
ihre erste Premiere feiern.
Im 1059. Schicksalsjahr des Reiches
inszeniert der Starregisseur des Moskauer Bolschoitheaters
die fast 200jährige, knapp dreistündige romantische Oper
vom Fliegenden Holländer,
also von Richard Wagner.
Die Geschichte von einem Kapitän,
der es nicht schafft,
das Kap der Guten Hoffnung
zu umsegeln.
Der aber für immer verflucht ist,
es trotzdem immer wieder zu versuchen.
Der alleine gegen die
Naturschranken ankämpfen muss,
immer und immer wieder,
weil er wollen muss,
schließlich hat er sich das so ausgesucht
(Teufel, Vertrag, you know the game…).
Der verzweifelte, aber unaufhörliche
Wille zur Macht.
Der unbeugsame Glauben
an den unmöglichen Triumph.
Typisch deutsch daran ist auch,
dass im selben Land
ähnlich bekannte Musiker
behaupten konnten, dass Kapitulation
das schönste Wort in der gemeinsamen Sprache ist.
Zwei Seelen, eine Brust,
ihr wisst schon.

Um aus dieser permanenten Zwickmühle zu entkommen,
reicht manchmal schon Erdbeerkuchen.
Denn bevor es mal wieder viel zu deep wird,
hier ein kleiner Bericht,
auch aus Deutschland, Mitte Juli 2021:
Zum Glück hatten die Konzertveranstalter in Leipzig
alle Register gezogen.
Jede*r Besucher*in musste
einen tagesaktuellen Test vorweisen.
Geimpft, ungeimpft? Egal.
Dass einen Tag vorher das System
zur Erstellung digitaler Impfpässe in den Apotheken
vom Netz genommen wurde (Datenleck)
spielte also keine Rolle.
Der Test vorm Supermarkt
dauerte eine Minute.
Ansonsten Maske auf,
außer auf dem reservierten Platz.
Easy peasy.
Die geschätzt sechshundert Besucher
der Parkbühne am Geyserhaus
waren ein Vorbild an deutscher Disziplin,
aber auf die nette Art halt.
Die fast zwei Stunden Livemusik
hatten so die Chance,
ein kleines, aber historisches Sommerereignis zu werden
(und mit Sicherheit um Längen besser
als alles auf dem Grünen Hügel in Bayreuth).
Einfach, weil es so einfach war,
obwohl es noch nie so schwer war.
Drei aufgeregte Typen,
ein Haufen Instrumente,
ein Tisch, drei Stühle,
ein bisschen was zu trinken.
Und bei jedem Lied ein aufgeregter,
aber textsicherer Chor gegenüber,
von Tanzverbot keine Rede,
aber jeder bitteschön an seinem Platz.
Annenmaykantereit sind inzwischen zehn Jahre alt.
Alt genug also für Geheimkonzerte.
Weswegen ich hier auch keine weiteren Details verrate,
außer einem,
weil es so herrlich (un)deutsch ist:
Die längste Ansage des gesamten Abends
war ein Eingeständnis von ehemaliger Unwissenheit
und gleichzeitig der Wille zum Besseren.
Den Text des bis heute größten Hits der Band
würde Henning May heute nämlich so nicht mehr schreiben.
„Pocahontas“ (Stichwort: critical race theory)
war vor einigen Jahren für ihn nicht mehr als ein Codewort
für die Hauptperson in diesem Trennungssong.
Gespielt haben sie den dann trotzdem,
und sogar vorher drüber geredet.
Der Wille zählt.
Der Abend war ein solcher Glücksfall von Unbeschwertheit,
dass der Ohrwurm der meisten Besucher
wahrscheinlich für den Rest des Sommers
Appetit auf Erdbeerkuchen haben wird,
und das ist gut so.

Auf den Schwarzen Spiegeln aber wird am selben Tag
ein anderer zehnter Jahrestag thematisiert.
Am 22. Juli 2011
wurde gegen Mittag ein Bombenanschlag in Oslo gemeldet.
Stundenlang wurde über islamistischen Terror diskutiert.
Am Abend dann:
Ein Nazi erschießt auf Utoya 69 Sozialisten.
Die acht Toten in Oslo waren nur die Ablenkung.
Sein über tausendseitiges Nazimanifest
war noch für Tage im Netz zu finden.
Zu viele Nachahmungstäter gab es in den folgenden Jahren.
Zum Beispiel: Fünf Jahre später.
Am gleichen Tag tötet ein Nazi
in München neun Jugendliche
und nennt den Norweger sein Vorbild.
Dann Christchurch, und immer so weiter.
Jahrestage, auch so eine deutsche (Un)art.
Gestern vor einem Jahr
war ich gerade aus dem partybefreiten Berlin zurück;
gestern fand der CSD statt,
mit 15.000 Besuchern.
In Deutschland, Gott sei Dank,
inzwischen eher Party als Demo.

Ansonsten steigen die Infektionszahlen
seit circa zwei Wochen wieder langsam,
aber kontinuierlich an.
Und nicht nur in Deutschland
hat die Vierte Welle begonnen.
In den westlichen Nachbarländern
ist die Lage bereits wieder außer Kontrolle,
auch wenn ein deutlicher Impfeffekt zu bemerken ist.
Momentan sieht es so aus,
als ob das reichen müsste.
Reichen für einen Herbst und einen Winter,
der wenigstens keinen absoluten Horror mehr bietet.
Nur etwas, an das wir uns so langsam gewöhnt haben.
Wird schon wieder irgendwie werden,
wir müssen nur wollen.

So.
Schluss mit Deutschland.
Ich ruf mal schnell in London an.
Da hat sich seit dem EM-Finale
keiner mehr gemeldet.
„Hello? Do you hear me? … Yes? … How are things? …
Bad as in really bad? …
Was? Überall leere Regale? … so richtig leer? …
Wegen des Brexit? …
Auch? …
Wegen der Pingdemic? …
Ach, weil so viele Systemrelevante in Quarantäne sind. …
Aber ihr hebt die Pflicht für die dann einfach auf? …
Bei einer 500er-Inzidenz? …
Mutig! …
Yes, yes. … I understand. …
Good luck! … Keep on keeping on, too!“

Tja, was bleibt uns auch?
Ewiges Weitermachen,
die Wieder- und Wieder- und Wiederkehr
des immer gleichen.
Die Schwarzen Spiegel der Welt zeigen seit gestern
wieder mal die modernsten Sportstätten.
Arenen des Triumphes,
dieses Mal in Japan.
In bester olympischer Tradition
wird erneut der Neue Mensch gefeiert.
Der den Naturgewalten trotzt,
der jede Grenze überwindet.
Pionier der Zukunft.
Heldin und Held der neuen Zeit.
Weswegen auch niemand anderes als
Sue Bird die US-Flagge trägt!

So weit im Osten,
dass es schon fast wieder der Westen ist,
könnte es dann doch keinen passenderen Ort
für die ersten Spiele dieses Jahrzehnts geben
als Tokio.
Die Stadt ist ein Synonym
für den Neuen Menschen:
Dem Kapital ergeben,
durchdigitalisiert,
divers,
gesund,
leidensfähig,
den Weltuntergang hinnehmend,
diszipliniert,
willensstark,
fast immer lächelnd und voller Abgründe.

So weit weg davon
ist Deutschland nicht mehr.
Die Frage bleibt,
ob wir das auch wirklich wollen.

„Nice,
(Deutsch) liberal,
(Deutsch) compassionate,
(Deutsch) considerate,
(Deutsch) reasonable,
(Deutsch) social,
(Deutsch) temperate,
(Deutsch) peaceful.
Say it clear, say it loud:
We are proud
of not being proud.
We are here
to remind you
That we have once
been stupid, too.“

(Jan Böhmermann: Be deutsch. 2016.)

 

Ich und der sehr gute Freund vom Anfang
nehmen dann jetzt gleich
zwei Touris die Sitzplätze weg,
Handtuch und so.

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