„Eine neue Zeitrechnung wurde installiert, und die Luft schwirrte nicht so sehr von der Begeisterung einer Periode als von der Begeisterung der Periodisierung.“
(Ben Lerner: Abschied von Atocha.)
So.
Nächste Zäsur.
Schön, dass Ihr wieder,
noch oder überhaupt
dabei seid.
Bevor es dann ab Sonntag
so richtig weitergeht
mit dem Fieberschub,
der dieses Jahr fraglos ist,
ein kleiner Abstecher
in die Parallelwelt,
die diese Kurzgeschichten hier
inzwischen geworden sind.
Ihr klarer Vorteil ist,
dass ich darin machen kann,
was ich will.
Ich kann die Realität genauso abbilden,
wie sie ist,
einfach keine Klarnamen nennen,
und zack fertig: Literatur.
Was Thomas Mann konnte …
Oder ich kann alles
ganz anders ablaufen lassen,
als es wirklich passiert ist,
und trotzdem,
und erst recht: Literatur.
Welcher Variante
die folgende Geschichte zugehört,
nun ja, das ist dann
Interpretationssache.
Teil 1 – berlin freeze
„Ey, kannst Du ma‘ bitte deine Musik leiser machen? Was ist das überhaupt?“ Der andere Brillenträger und die Gastgeberin hatten gerade gegessen, auf dem Tisch vor ihnen standen jetzt zwei Laptops. Auf dem einen lief seit geraumer Zeit die Live-Berichterstattung des ZDF und nebenbei die Live-Streams von CNN und dem Guardian. Auf dem anderen blickte die beiden der andere Schlaue an. Soweit der Bildausschnitt Vermutungen zuließ, befand er sich anscheinend in einer Bar, hinter ihm waren neben der Musik auch weitere Stimmen zu hören, neben ihm stieg Zigarettenqualm in die Höhe und in der Hand hielt er einen Cocktail, die Gastgeberin tippte auf Moscow Mule: „Sag mal, trinkst du das immer noch? Wie 2012 kann man sein?“
„Nicht immer noch, Werteste, immer wieder!“ Er erhob das Glas und nahm einen langen Schluck. „Um auf deine Frage zurückzukommen, nee, die Musik kann ich nich leiser machen, und ja, das ist Nirvana. Achtung, jetzt kommt der Refrain, ich geh mal aus dem Bild.“ Hinter ihm waren jetzt, in sehr wenig Licht getaucht, mindestens elf Menschen zu erkennen, die ebenfalls ihre Gläser erhoben und laut mitsangen: „With the lights out, it’s less dangerous. Here we are now, entertain us. I feel stupid and contagious. Here we are now, entertain us.“
„Echt ja? Du bist wirklich auf ner Party?“
„Party, Schmarty. Wir sind hier höchstens drei Haushalte. Außerdem machen die meisten hier eh Homeoffice, die sind quasi wieder sicher in Quarantäne ab morgen.“
„Ey, sogar Trump hat die Gästezahl auf seiner Party gerade noch nach unten korrigiert. Aber musst du wissen, bist alt genug.“
„Ja, aber wenn‘s losgeht nachher, dann geh ich vor die Tür, versprochen. Ach, sag mal, ist der Brillenträger dann auch dabei?“
„Nee, ich glaub‘ nich‘. Hab auch länger nichts gehört oder gelesen von dem, der scheint das mit der Staffelpause ernst gemeint zu haben.“
„Schade. Egal. So gegen Mitternacht dann, ja?“
Die Gastgeberin warf eine Kusshand Richtung Bildschirm und stand auf, um die Gläser neu zu befüllen. „Rufst du dann mal die Reporterin an? Die vergisst das doch sonst wieder.“ Keine drei Klicks später erschien die Reporterin, wo gerade noch der andere Schlaue gewunken hatte. „Ja, ja, ich vergess‘ euch schon nicht!“ Sie winkte und zeigte gleich darauf ihren Arbeitsplatz. Drei Monitore, auf dem Tisch vor ihr zwei weitere Handys und ein Schreibblock.
„Du bist in der Redaktion?“
„Jap, ist aber niemand außer mir hier. Alles save.“
„Musst du arbeiten?“
„Nicht live, aber ich bin lieber hier, wenn ich mich konzentrieren muss. Mit ner Couch, nur ein, zwei Meter entfernt, fällt mir das zu schwer. Geht‘s euch gut?“
„So gut, wie es uns gehen kann. Ich hab Früh morgen.“ Ihre Müdigkeit ließ sich die Gastgeberin nicht anmerken. Sie stand erneut auf, diesmal um das Fenster ganz zu öffnen. Kurz bildete sie sich ein, auch von der naheliegenden Kreuzung laute Musik zu hören, I feel stupid and contagious…
An ihr vorbei wehte der Herbstwind ins Zimmer, der in den letzten Tagen noch ein letztes Mal sein Sommerkleid getragen hatte, jetzt aber schon wieder nach dicken Socken und Schals roch. Das Bild, das ihm die Straßen der Stadt heute gewesen waren, kam ihm inzwischen allzu vertraut vor. Bereits im frühen Sommer hatte er schon die Distanz genossen, die zwischen den Menschen entstanden war. Seit einigen Tagen war diese noch weiter gewachsen, und um die Personen zu erreichen, die er vor Monaten auf so unbeschwerte Weise kennengelernt hatte, musste er inzwischen weitere Wege wehen.
Y hatte er dabei lange suchen müssen. Er war weder bei seiner Familie, noch war er in seiner Werkstatt. Nach einigem Umherwehen fand er Y am Schlachtensee. Dort, wo sonst ein weitläufiger Biergarten steht, wurden lediglich zwei Bänke von spärlichem Laternen-licht beschienen. Auf einer davon saß Y und hatte die Augen geschlossen. Der Herbstwind fühlte sich noch mild genug, um Y um die Nase wehen zu können, ohne dass dieser sich gleich einen Schnupfen holte. Y dachte nicht viel. Für einige Minuten war es ihm gelungen, die Welt wirklich auszublenden.
Als aber der Herbstwind wieder in Richtung Innenstadt davonzog, hörte er noch, wie das Handy in der der Jackentasche von Y summte. Auf dem Bildschirm waren, auf drei Fenster verteilt, die Reporterin, der andere Schlaue und der andere Brillenträger neben der Gastgeberin zu sehen. „Hallo Leute!“
„Hey, na? Wo bist du denn?“
„JWD.“
„Erzähl doch nichts, sag schon, Schlachtensee oder Ehrenmal?“
Y schwenkte sein Handy.
„Aha. Na ja, am Wasser ist es eh schöner. Gute Wahl.“
„Ja. Und echt keiner hier. Also, ist das jetzt der Test für nachher?“
Alle hielten ihre Daumen in die Kameras.
„Ihr seid so witzig Leute! Ist denn schon was wichtiges passiert?“
In der Bar zuckte der andere Schlaue mit den Schultern. „Weiß nicht, hier versteht man kein Wort von den Nachrichten. Scheinen sich ganz schön sicher zu sein hier die Leute. Die feiern schon reichlich. Aber ich glaub‘, eben liefen noch mal Trumps Greatest Hits bei Fox News. Kann auch sein, dass da der Ton ausgeschaltet war. Kennen ja eh alle schon, den Mist.“ Er trank sein Glas leer und stellte es auf dem Tresen ab. „Los, wir machen schnell unsere eigene Top Ten, einfach um zu gucken, ob die Konferenz stabil läuft. Ich fang an. In meiner Top Ten ziemlich weit oben ist die Nummer mit der Besucherzahl bei seiner Amtseinführung. Eigentlich voll egal, aber gleich mal die krasse Ansage und offene Kriegs-erklärung an die freie Presse.“
Die Gastgeberin und der andere Brillenträger sahen sich an: „Du zuerst.“
„Ach, nein, mach du zuerst.“
„Na gut, danke. Also ja, das ist bei mir auch ziemlich weit oben, aber ich denke, das Impeachmentverfahren ist meine Nummer eins.“
„Welches?“
„Ha ha, na das richtige, das was dann auch durchgezogen wurde. Aber auch krass ne, erst zwei Jahre lang richtig ordentlich Beweise sammeln, und dann haut der noch nen härteren Bolzen raus.“
Y meldete sich: „Kann man auch einen Platz nennen, auf dem sich so verwandte Sachen sammeln können? Weil dann würd‘ ich sein Twittlertum auch ganz weit vorne sehen.“
Dem anderen Brillenträger trat schon der Schweiß auf die Stirn: „Ey, ich kann mich auch nicht entscheiden, die Auswahl ist einfach zu groß. Wie wär‘s mit seiner Reaktion auf Charlottesville und die Nazis, die da im Fackelmarsch „Jews will not replace us“ geschrien haben? Obwohl, seine Einladung an die Proud Boys bei der ersten Präsidentendebatte war auch unterirdisch.“
„Was ist mit Stormy Daniels?“ Der andere Schlaue hatte nachfüllen lassen, diesmal schien es irgendetwas mit gelblicher Limonade zu sein. „Das hier ist übrigens ein „Hotel Room“, ganz was exotisches, müsst ihr probieren. Prost!“
Am Schlachtensee winkte Y nur ab: „Ach komm, aber nicht wenn wir noch den Angriff im Irak mit der „Mutter aller Bomben“ haben, oder die Ermordung dieses iranischen Generals.“
„Leute, das geht echt zu schnell. Haben wir schon 10 Sachen zusammen? Ich will einfach nicht mehr, ich will nur, dass es endlich vorbei ist.“ Der andere Brillenträger zog seine Strickjacke aus. „Aber wir dürfen nicht seine Immunität vergessen. Also nicht die, die er um keinen Preis verlieren will, sondern die, die ihn für seine Anhänger schlussendlich zur absoluten Lichtgestalt gemacht hat.“
Hinter dem anderen Schlauen wurde die Musik wieder lauter gedreht, die anderen sangen ausgelassen mit: „Educated criminals work within the law!“ Er ging, wie versprochen vor die Tür: „Ihr seht, man kann in Berlin noch feiern. Aber nur noch schnell, also ich find‘ die Neubesetzungen der Gerichte, das ist das heftigste von allem. Der ganze andere Zauber waren doch nur Nebelkerzen, die die Republikaner ihn haben werfen lassen. Und besonders Brett Kavanaugh. Was für eine Show!“ Er zog den Kragen seiner Jacke bis an die Ohren. „Ich geh erst mal wieder rein. Bis nachher. Scheint ja alles zu funzen hier. Tschö!“
Die Reporterin, die bis jetzt nur gespannt zugehört und immer wieder genickt hatte, winkte auch schon: „Also bis nachher! Ach, ich fand ja, dass der Lockerroomtalk da in dem Bus schon hätte reichen müssen.“ Auch die Gastgeberin verzog angewidert das Gesicht. „Ja, tschüß. Macht mal die Spiegel noch ein paar Minuten aus, wird anstrengend nachher.“
Ys Augen leuchteten: „Genau. Warum genau machen wir das nochmal?“
„Weil es hoffentlich eine Zeitenwende wird. Willst du davon erst am nächsten Morgen erfahren?“
„Na, die würde es auch ohne mich werden. Aber hast recht, dann können wir da gleich nen Haken dran machen, und endlich mit der neuen Normalität anfangen. Bis später.“ Er winkte und im nächsten Moment schauten der andere Brillenträger und die Gastgeberin auf einen leeren Bildschirm. „Komm, wir gehen auch noch ein bisschen spazieren. Es ist so schön ruhig draußen.“
Auf diesen Satz hatte der Herbstwind gewartet und schwang sich vom Fensterbrett zurück in die Nacht. Unter ihm traten wenig später die Gastgeberin und der andere Brillenträger auf die Straße, dick eingepackt, als wollten sie die ganze Nacht unterwegs sein. Als wollten sie nie wieder in die Gegenwart zurück, nicht wissen, wie es weitergehen würde. Denn, bei allem Jubel über die nächste Periode, und das wusste inzwischen selbst der Herbstwind: Außer dass etwas neues beginnen würde, gab es nicht viel zu jubeln. Die neue Periode war bereits vor ihrem Beginn so frustrierend, dass es leicht fiel, sich lieber nach früher zurückzusehnen, und sei es nur ein Jahr. Lieber noch 20 Jahre Reality Horror Show mit dem Frisurensohn als das, was jetzt auf alle zurollte. Aber vielleicht würde der wenigstens aus dem Drehbuch gestrichen. Wenigstens hatten die Menschen noch eine Wahl.
Der Herbstwind wehte jetzt hoch oben über den Dächern, von wo er alle gut im Blick hatte, und entschied sich, für eine Weile am Himmel seinen liebsten Stern zu suchen. Die größte Auswahl, die es gibt, und sein Stern war irgendwo im Bild des Schützen.
Teil 2 – New Dawn
Mitternacht.
Die Reporterin versuchte, das wichtigste aus den letzten Stunden, bevor die ersten Wahllokale gerade schließen sollten, zu ordnen. Bis jetzt war es zumindest auf den Straßen unerwartet ruhig geblieben. Auf dem linken Monitor kündigte CNN schon seit einer gefühlten Ewigkeit die Schließung der ersten Wahllokale an, obwohl bis dahin noch eine gute Stunde Zeit war. Der Tagesschauticker hatte auf dem mittleren Bildschirm jedoch bereits deutlich Fahrt aufgenommen, und auch Trump selbst hatte sich gerade noch einmal auf Twitter gemeldet: Nachdem er etliche Retweets seiner eigenen Videobot-schaften der letzten Tage gepostet hatte, krönte er seine Präsidentschaft mit einem Video, von dem jeder Satiriker der Welt nur hätte träumen können. Zu den Klängen von YMCA kann man darin einen Zusammenschnitt der besten Dancemoves von Trump bei seinen Wahlkampfauftritten bestaunen. Fast zwei Minuten lang. Was für ein vermeintlicher Abgang, an (Selbst)Ironie eigentlich nicht mehr zu überbieten, nur dass Trump zu mehr als Zynismus als Emotionsäußerung eben nie in der Lage war.
Diese Gedanken notierte die Reporterin auf ihrem Schreibblock, solche Überlegungen waren eher etwas für ihren privaten Blog. Daneben standen bereits in kaum leserlicher Schrift viele weitere Notizen, einige davon auch schon mehrfach unterstrichen:
Über 100 Millionen Stimmen vorher abgegeben.
Insgesamt so viele wie seit über 100 Jahren nicht (prozentual).
Robocalls halten Wähler ab: „stay home stay safe“.
Trump hat noch keine Rede fertig (wozu auch?).
Biden: Wir WÄHLEN Hoffnung statt Angst.
Weißes Haus weiträumig abgesperrt.
Washington bereitet sich auf Ausschreitungen vor.
„smooth day of voting“ in Florida,
trotz Nationalgarde in Alarmbereitschaft.
Eben diese hilft bei der Wahl in Wisconsin.
NC macht die Wahllokale eine Stunde länger auf,
wegen zu langen Schlangen.
Gestern: „Trump“ Graffitis auf jüdischem Friedhof in Michigan.
Beerdigungsunternehmen in Milwaukee funktioniert Limousinen zu Taxis um,
um die Wähler zu den Wahllokalen zu bringen (cringe!)
CNN poll – Rangliste der Wahlmotivationen:
economy
is wichtiger als
racial equality
is wichtiger als Sars-Cov-2.
Ihr Handy summte. Sie überflog ihre Arbeit noch ein mal kurz, schnappte sich den dicken Pulli und setzte sich auf den Balkon der Redaktion, ein schwarzer Spiegel sollte vorerst reichen. Auf dem Display erschienen nacheinander der andere Brillenträger neben der Gastgeberin, die wieder erstaunlich frisch wirkte, darunter dann der andere Schlaue, sichtbar in Zigarettenrauch und Schummerlicht gehüllt, und auf dem unteren Teil des Bildschirms grinste sie Y an: „Gut, dann sind wir ja vollständig. Aber meint ihr nicht wir sind zu früh? So richtig geht es doch erst in einer Stunde los, oder?“
Die Reporterin wartete einige Momente, und nachdem niemand anderes antwortete, sagte sie: „Eben.“
Der andere Schlaue schien die Party verlassen zu haben, hinter ihm waren jetzt geschlossene Schaufenster zu sehen. „Ja los, lasst uns mal noch ne Stunde einfach nur gute Freunde sein, über den ganzen Wahnsinn müssen wir eh noch tausendmal reden.“
„Recht haste!“ Die Gastgeberin freute sich sichtlich und auch der andere Brillenträger nickte ganz unironisch.
Nicht nur auf dem Balkon der Reporterin hatte es sich wieder deutlich abgekühlt, ab jetzt würden die Nächte wieder Frost bringen, der Winter nahte unausweichlich. Auch dem Herbstwind fröstelte bereits, und bald würde er versuchen sich aufzuwärmen, sich zu bewegen, aber noch war das Gespräch der Freunde zu selten, um auch nur einen Augenblick zu verpassen. Diese Gespräche waren seltener geworden, nicht nur bei diesen Freunden hier, sondern bei vielen. Obwohl alle ständig mit jemandem kommunizierten, sprachen sie immer seltener von und über sich, und immer mehr nur über die Welt, über die Zeit und über die Gegenwart. Für den Herbstwind hatten diese Worte einen kalten Klang, sie klangen nur nach Buchstaben und Zahlen, nach Beliebigkeit und Unverbindlichkeit. Sie waren gefärbt von Angst, verkleidet mit Hochmut und geschminkt mit Intellekt. – Das alles nicht, dafür aber Zuneinung, Demut und Mitgefühl, und eine unaussprechliche und unbeschreibbare Verbindung zwischen den Menschen, das war der Klang, den die Gespräche hatten, wenn sich Freunde miteinander unterhielten, und dieser Klang war es, der den Herbstwind noch die nächste Stunde auf dem noch warmen Balkon verweilen ließ.
Als er sich dann vorerst satt gehört hatte, begannen auch die Freunde sich voneinander zu verabschieden. „So, ne, ihr wisst, ich würde am liebsten, und so weiter, aber ich geh mal wieder rein. Die stellen sonst schon wieder bloß blöde Fragen. Und außerdem wollen die wohl dann jetzt nebenbei Monopoly spielen. Ich hoffe, das ist nur diese schräge Berliner Selbstironie.“ Der andere Schlaue winkte verschämt in die Kamera.
„Alles gut. Wir sehen uns morgen. Drück die Daumen!“ Auf dem mittleren Fenster war die Gastgeberin nur noch halb, und ein großes Kissen war am Bildrand zu sehen. Dafür war der andere Brillenträger jetzt übergroß, und seine gespitzten Lippen bewegte sich auf die Kamera zu: „Tschüßi. Hab Euch lieb, wisst ihr, ne? Bis morgen! Reporterin? Du machst nicht zu lange, ja?“
„Mach ich nicht. Höchstens bis drei. Es seie denn …“
„Nichts es seie denn! Wir haben hier alle die Wahl. Also wähle klug!“ Y schien zu laufen, der Bildausschnitt ruckelte etwas.
„Ja ja. Also bis bald. Komm gut nach Hause. Und genieß es, wer weiß, ob du demnächst nicht angehalten wirst bei deinen nächtlichen Spaziergängen. Nee, nur Spaß. Mach‘s gut.“
Der Bildschirm blieb nur kurz dunkel, dann summte ihr Handy erneut, Y hatte noch einen schlichten Smiley als SMS geschickt. In der nächsten Sekunde begannen ihre beiden anderen Handys auf dem Schreibtisch zu summen, und auf den drei Bildschirmen überschlugen sich die Meldungen. Die Wahl war getroffen, die ersten großen Buchstaben und Zahlen flammten dreifach, fünffach, hundert-, tausend-, millionenfach auf Milliarden von schwarzen Spiegeln der Welt auf. Sie nahm den Stift in die Hand, blätterte eine Seite im Schreibblock um und begann zu schreiben:
Indiana first: tiefrot.
Kentucky second: dunkelrot.
viertel nach 12: Trump auf Twitter: „we‘re looking good all over the country.“
(3 (!) von über 3000 (!) countys ausgezählt).
Biden gewinnt bereits Counties in Kentucky (!!!),
halb 1 bis dreiviertel 1 führt er sogar mal kurz.
der REP Gov von Vermont hat FÜR Biden gestimmt.
1 Uhr (nächste Welle):
Florida: erst mal rot,
ab viertel 2 liegt Biden vorn,
ab halb 2 wieder rot,
CNN: „welcome to the rollercoster“
Georgia: geht auch gleich blau los.
Vermont, New Hamphire: gleich tiefblau.
Virginia: klar rot.
Ohio: geht auch gut los, und noch besser weiter – OHIO?
2 Uhr (dritte Welle):
30-18 für Biden
Sogar Texas fängt blau an.
Michigan blau..
Kansas blau…
Dorothy! … die böse Hexe des Westens … sie schmilzt, sie schmilzt …
Toto! Sind wir etwa endlich wieder in Kansas?
War das alles nur ein Traum?
Vor dem Fenster auf dem Balkon hatte sich hatte sich der Herbstwind bereits erhoben. Er wusste, dass ihn sein nächster Zug zum Brillenträger führen wollte, und er konnte sich Zeit lassen, brauchte sein Tornadokostüm nicht, denn erst zum Sonnenaufgang würde der Brillenträger sein Fenster öffnen, um den Silberstreif am Horizont zu suchen. Der Herbstwind überlegte sich auf seinem Weg, welche Musik dabei erklingen würde, und tippte schwer auf Kitschkrieg.
Teil 3 – A new hope (and Lady Liberty in tears)
Die Flammen am Horizont waren bereits zu einem weichen Vanillelicht geschmolzen, als der Brillenträger das Fenster öffnete. Mit seinen Gedanken, die noch dem Schlaf nachhingen, kam er nur langsam in der neuen Normalität an. Bis zum Anschalten des Computers ließ er sich noch Zeit. „Mornings are for coffee and contemplation“ hallte es durch seinen Kopf, der Herbstwind auf dem Balkon schien zur Ruhe zu kommen.
Überrascht war er dann nur noch, dass er doch noch niedergeschlagen war, als er Trump dabei zuhörte, wie er seinen Wahlsieg ausrief und gleich darauf den sofortigen Stopp der noch ausstehenden Auszählungen forderte. Der Albtraum fühlte sich inzwischen zu wohl vertraut an. Die Karten in den Fernsehstudios waren deutlich roter als noch vor einigen Stunden. Trump schien wirklich zu gewinnen. Sogar noch deutlicher als vor vier Jahren. Und es ging nahtlos weiter: Heute war der Tag, an dem die USA endgültig aus dem Pariser Klimaabkommen ausstiegen. Im letzten Jahr allein wurden 17 Millionen Feuerwaffen verkauft. Die größte Militärmacht der Welt, jeder einzelne bis an die Zähne hochgerüstet, hatte erneut dieses Arschloch gewählt? Dann war wohl alles klar. Dass zeitgleich berichtet wurde, dass in Oregon seit heute der Drogenkonsum jeglicher Droge entkriminalisiert wurde, passte auf absurdeste Art ins Bild.
Es fiel ihm schon viel zu leicht, den leichten Anflug von Hoffnung der letzten Nacht wieder in den Schrank zu hängen. Er klappte den Laptop zu, trank schnell seinen Kaffee aus und legte sich auf die Couch. Bevor der neue Tag beginnen konnte, wollte er wenigstens noch schnell zu Ende träumen. Davon, dass nach einigen Stunden und ermüdenden Durch-halteparolen, die „blue wave“ doch noch begann zu wachsen. Zuerst in Wisconsin. Dann in Arizona. Plötzlich würde von Michigan die Rede sein. Und selbst in Georgia und Pennsylvania würde es noch mal spannend. Die Analysten würden von hunderttausenden noch ausstehender Stimmen sprechen, viele davon aus demokratischen Hochburgen. Am Abend wäre die Lage so brenzlig, dass Rudy Guiliani persönlich nach Philadelphia reisen würde, um den angeblichen Wahlbetrug zu stoppen. Wenn er dann aus dem Flugzeug über den Hafen von Manhattan schauen würde, würde er sie sehen können: Die Augen der Freiheitsstatue, die ihren stolzen Blick schon endgültig von ihrem Land abgewendet hatte, um in Ewigkeit Richtung 20. Jahrhundert zu trauern. Jetzt aber würden sie erneut der Zukunft entgegen sehen. Sie würden Jahre der Heilung erblicken, den Aufstieg so vieler Hoffnungen, den erfolgreichen Kampf um deren Erfüllung. Und sie füllten sich mit Tränen, die über die Wange der Lady Liberty flossen, die Halsschlagader unter Kupfer und Eisen entlang. Tränen die sich ihren Weg durch die Toga suchten, über die Seiten der metallenen Unabhängigkeitserklärung liefen, um dann frohen Mutes auf den zerrissenen Ketten der Sklaverei zu zerplatzen. Tränen, in denen sich der Feuerschein der Fackel der Aufklärung spiegeln würde, und auch der Silberstreif am westlichen Horizont. Irgendwo zwischen dem warmen Rot des Abends und dem tiefen Blau der Nacht.
Der Brillenträger war gerade noch so wach, dass er diesen Traum einfach mit in den neuen Tag nahm, um sich wenigstens noch ein paar mal daran erinnern zu können. Wenigstens bis er abends mit der Brillenträgerin, die ihre Brille ungern trägt, auf dem kleinen Balkon sitzen konnte, um gemeinsam von einer besseren Zukunft zu träumen. Und vielleicht, vielleicht, war ja die Idee zwar noch nicht total gut, aber die Welt inzwischen bereit.
„The world is flat
and this is the edge,
it can‘t get more obvious
than this.“
(KennyHoopla. 2020.)
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