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Weltschmerz Revisited (S12:Ep14)

von | 2025 | 29. Juni | Die Serie, Staffel 12 - Dancing With Wolves

Bild: Summertime Sadness. Quedlinburg, Ende Juni.

 

 

Cold Open
Oder: Clusterfuck Revolutions

Warum Donald J. Trump
kein Bier trinkt?
Weil ständig jemand anderes
es für ihn halten muss.
Der Frisurensohn
zerschreddert weiter ungehindert
jegliche noch so überkomplexe Diskurslandschaft.
Wie macht er das?
Indem er weiterhin jeden Tag
mindestens drei neue „Kehrtwenden“ hinlegt.
Zum Beispiel will er Anfang der Woche
jetzt vielleicht doch einen Regime Change:
„Make Iran Great Again!“;
das Lachen schafft es nicht mal bis in den Hals,
in dem es stecken bleiben müsste.
Und da läuft
der „12-Tage Krieg“ (Trump) noch:
Die IDF bombardieren
die Tore des berüchtigten Gefängnis in Evin,
hunderte „politische Gefangene“ können entkommen.
Als Antwort auf die angebliche Zerstörung
der iranischen Atomanlagen durch die USA
werden US-Basen in Quatar und dem Irak angegriffen,
der Iran nennt das Dutzend Raketen,
das, auch weil vorangekündigt,
nur Sachschäden verursacht:
„Verheißung des Sieges“.
MAGA-World spindoctort sich derweil
die neue Wirklichkeit zurecht:
Okay, Trump hat eines seiner zentralen Wahlversprechen
(und das Völkerrecht) gebrochen,
aber hey,
dann hat jetzt eben endlich der „Holy War“
gegen den Islam begonnen;
„Rednecks“ in Tennessee
lassen sich neue Kreuzritter-Tattoos stechen.
Trump jedenfalls zeigt sich dankbar
für die „very weak response“,
und zeigt kurz so etwas ähnliches
wie diplomatisches Verständnis,
indem er den Vergeltungschlag
als Exitangebot aus Teheran versteht,
das er auch noch als Sieg verkaufen kann;
wobei es ihm selbst nur um letzteres gehen dürfte.
Also setzt er weiter einen obendrauf
und verkündet am Montag Abend
einfach so eine Waffenruhe
live im US-Kabelfernsehen.
Der Iran signalisiert erstmal Bereitschaft,
und am Dienstag Vormittag
fliegen immer noch Raketen nach Tel Aviv,
und Israel antwortet natürlich reichlich.
Und da platzt Trump tatsächlich
mal glaubwürdig der Arsch:
Auch wenn er sich wieder nur darüber ärgert,
dass keiner macht,
was er sagt,
hat er inhaltlich trotzdem recht:
„They (Israel und Iran) don’t know
what the fuck they are doing.“
Word.
Wahrscheinlich nicht deswegen,
aber immerhin hält die Waffenruhe seit dem an;
Trump hat seinen eigens angezettelten Krieg
nach 12 Tagen „gewonnen“.

Als erstes tritt deswegen
Nato-Generalsekretär Rutte
zum Stiefellecken an.
Und das obwohl
die Bombardements auf Fordo und Co.
wohl doch nicht so durchschlagend waren,
das Atomprogramm des Iran
scheint nur um wenige Monate zurückgeworfen zu sein.
Da kann Trump die Messenger (CNN, NYT)
noch so sehr mit faschistischen Ausfällen überziehen,
die Infos stammen von seinen eigenen Geheimdiensten.
Also, man ahnt es,
Double Down,
aber in richtig scheiße:
Eigentlich wären die Bombenabwürfe
das neue Hiroshima/Nagasaki gewesen.
In seinem Kopf
muss die Geschichte also ungefähr so aussehen:
Der Dritte Weltkrieg ist vorbei,
weil er ihn quasi gleich zu Beginn schon beendet hat,
die Bombenabwürfe müssen also
so etwas wie das Negativ der
letzten und einzigen Atombombenabwürfe der Geschichte sein,
und zwar auch in dem Sinne,
dass die Ziele die vermeintlichen Atombomben
selbst gewesen wären.
Diese Logik muss man sich auch erstmal trauen.
Aber geschenkt,
sollte der „Frieden“ jetzt dann länger halten
als 80 Jahre,
dann soll er wegen mir
den Nobelpreis
posthum ruhig noch bekommen.
Was nicht passieren wird,
wegen Gründen.

Auf dem Nato-Gipfel in Den Haag
wird er dann also folgerichtig
nicht vorläufig festgenommen,
sondern darf happy in Kameras grinsen.
Bei seinen Reden
stehen seine Dauerwingman Hegseth und Rubio
(also Schulter an Schulter das US-Militär und die US-Außenpolitik)
ernst dreinschauend hinter ihm,
als er sich voll und ganz zur Nato bekennt.
Das kann er im Brustton der Überzeugung machen,
denn die 5%-Beitragserhöhung
ist bereits (fast, Spanien) einstimmig beschlossen.
Und noch bevor er Gespräche mit dem Iran ankündigt,
lenkt er die Aufmerksamkeit
wieder zurück zur Wurzel des Übels:
Die „Hexenjagd“ auf Benjamin Netanyahu
müsse endlich aufhören,
vor allem jetzt,
da dieser angeblich wieder so populär ist,
dass er sogar schon darüber nachdenkt,
Neuwahlen vorzuziehen,
bevor den Menschen wieder einfällt,
was in Gaza eigentlich abgeht;
I promised you some clusterfuck.

Innerhalb des US-Faschismus
geht es es derweil auch nicht anders zu:
Pete Hegseth will FBI-Ermittlungen
wegen des „Pentagonleaks“,
das den Schlag gegen das iranische Atomprogramm
so schlecht aussehen lässt;
keine Wahrheit,
die sich nicht verdrehen lässt.
Wie natürlich auch bei Fox News:
„The world just got a warning shot.“
Mike Pompeo (US-Außenminister in Trumps erstem Kabinett)
darf den Sheeples erklären,
dass die “Axis of Authoritarians”
gerade so geschwächt wie noch nie sei,
und betont lautstark,
dass die Bombardements
nicht nur Teheran erschüttert hätten,
sondern sowohl China als auch Russland;
Weltkrieg halt.

Unterdessen gehen die ICE-Einsätze in Kalifornien
nur wenig vermindert weiter,
die Gegenwehr hat nicht jeden Tag Zeit.
Bis auf einige Arbeitgeber,
die auf ihre Angestellten nicht verzichten wollen,
was wären private Baufirmen
ohne Arbeitskräfte
ohne Bürgerrechte?

Der Frisurensohn hat inzwischen
übrigens auch mitgekriegt,
wer der neue beste Feind ist:
Auf Fox darf er gegen AOC austeilen:
Unqualifiziert
und kognitiv zurückgeblieben!
Und er wünscht sich geradezu
ein Amtsenthebungsverfahren:
„Make my day!“
AOCs Tage hat er damit
aber nicht gerade schlechter gemacht…

Anyways,
der Mann hat weiter viel zu tun:
„Alligator Alcatraz“
soll in Florida gebaut werden.
Die Proteste gegen das „BBB“
in der Rotunda des Kapitols
müssen dumm kommentiert werden.
Die demokratische Vorwahl
für den Bürgermeisterposten in New York
muss durch den Dreck gezogen werden
(der Gewinner, Zoran Mamdani,
ist nicht nur Inder,
sondern auch Muslim,
hält Händchen mit AOC
und ist außerdem Antisemit),
Trump weiß gar nicht,
wo er zuerst attackieren soll.
Also verkündet er seinem Volke
die nächsten Erfolge im Handelsweltkrieg:
Mit China gibt es einen neuen Deal,
der wohl irgendwelche ganz tollen
Lockerungen enthalten soll,
mit Kanada aber,
da gibt es keinen Deal,
und Runde drei im Zollkrieg
wird eingeläutet.
Den Supreme Court weiß er auch weiter fest hinter sich,
das Geburtsrecht in den USA wird (wieder) verschärft.
Bleibt also nur noch dieser leidige Senat,
der immer noch nicht so will
wie der Frisurensohn und seine viel zu reichen „Freunde“:
Chuck Schumer kündigt an,
das gesamte „Gesetz“ (knapp 1.000 Seiten)
vor der Abstimmung komplett vorlesen zu lassen,
natürlich live auf C-Span,
for everyone to hear.
Nicht die schlechteste Idee.

 

So.
Haben wir das also schonmal weg.
Der unübersetzbare Weltschmerz,
den diese Hohlbirne von „Herrscher“
(und sein Fußvolk)
jeden Tag über die Gegenwart bringt,
hat wieder ein bisschen abgenommen,
zumindest hier am Schreibtisch in der Provinz.
Wo besagter Weltschmerz kaum privilegierter sein könnte.
Momentan ist mein einzige existenzielle Sorge
die Frage, ob es schon warm genug ist,
damit ich meine Füße in Wasser kühlen muss,
das ich aus einem von drei Wasserhähnen,
alle davon keine drei Meter entfernt,
in einer Schüssel holen müsste.
Und die Antwort darauf
ist auch noch:
Nein.
Große, weiße Wolken ziehen über einen blauen Himmel,
es weht ein maximal angenehmer Wind,
den ganzen Tag schon keine (Push)Nachrichten,
und die Sommerferien
fangen morgen erst an.
Und ich kann ohne Probleme
irgendwo im Internet lesen,
dass allgemeiner Weltschmerz
absolut legitim ist.
Was schlägt das ICD-11 dagegen vor?

Unterdessen
erreichen immer noch viel zu wenige Lebensmittel
die Menschen im Gazastreifen.
Das Nothilfebüro der Vereinten Nationen
erhebt deshalb schwere Vorwürfe:
Israel unterbinde systematisch Hilfe,
um palästinensisches Leben auszulöschen.
In Palästina wird dieses Phänomen,
inzwischen nicht mehr zynisch,
„Hunger Games“ genannt.
Unvermindert gibt es Angriffe
auf die Zivilbevölkerung,
die IDF schießen
auf Befehl
auf Menschen,
die bei Verteilzentren anstehen.

Unterdessen
kommt es auf dem englischen Glastonbury Festival
zu folgendem Eklat:
„Die Band Bob Vylan,
deren Mitglieder man allein
wegen ihres Bandnamens einsperren sollte,
tritt auf.
Der Sänger brüllt:
„Tod, Tod der Israelischen Armee“.
Er braucht das Publikum,
das palästinensische Flaggen schwenkt,
nicht lange zu animieren,
die Parole nachzubrüllen.
Anschließend treten die irischen Rapper Kneecap auf.
Der Hauptschreihals der Truppe,
Liam O’Hanna,
hat eine Palästinafahne über seinen Kopf gebunden.
Er hatte übrigens gerade erst eine Gerichtsverhandlung,
weil er voriges Jahr
die Hizbollah-Fahne auf einer Bühne geschwungen hatte.“
(Bernhard Torsch)
Das Publikum brüllte übrigens auch:
„Fuck Starmer!“

Unterdessen
hat der deutsche Oberhammel
solche Probleme noch nicht:
Bei der ersten Regierungserklärung
von Kanzler Merz
bleibt außer außenpolitischen Anwandlungen
nicht viel hängen.

Unterdessen
empfiehlt die Mindestlohnkommission
verbindliche 14,60€ bis 2027.
Merz denkt sich gönnerhaft zu geben
und wettert nicht sofort dagegen los.

Unterdessen
wird das Asylrecht weiter ausgehebelt:
Der Familiennachzug wird für 2 Jahre ausgesetzt,
den Bundestag passiert das
„umstrittene“ Gesetz
mit 444 Ja- zu 135 Neinstimmen.
Wer hat mit der Groko gestimmt?
Die Linken,
die Grünen,
oder die AfD?

Aber zu den Faschos kommen wir später noch,
denn berichtet wird über all das
vergleichsweise wenig,
verglichen mit der „Berichterstattung“
zum aktuellen Stand der Kriegstüchtigkeit.
Die Propaganda des MIK
funktioniert wie der Tauchsieder
in dem Krug mit dem Wasser
und dem Frosch.
Drei Beispiele müssen genügen,
die angenehmen Außentemperaturen
wollen nicht zu sehr herausgefordert werden.
Erstens:
Boris Pistorius nimmt langsam Kurs auf.
Bei einem Fehlen von Freiwilligen
könne man nicht erst
in ein neues Gesetzgebungsverfahren einsteigen:
„Dafür haben wir keine Zeit“,
so der Minister.
Wäre der Mechanismus
einer dann einsetzenden Wehrpflicht
jedoch schon jetzt im Gesetz angelegt,
sei das dann kein Problem.
Eine definitive Entscheidung
könne er zum jetzigen Zeitpunkt nicht treffen,
„aber ich kann das nicht ausschließen.“
Das entsprechende Gesetz
soll jetzt dann noch vor der Sommerpause
in der Bundesregierung beraten
und danach dann beschlossen werden.
Ab Herbst kann dann also („theoretisch“)
wieder eingezogen werden.
Zweitens:
Deutschlands Töchter
haben kürzlich eine Postkarte
von der Bundeswehr bekommen.
So wie ungefähr 650.000 weitere Jugendliche in Deutschland.
Die Vorderseite der Karte zeigt,
wie der Name deutscher Töchter
als Schriftzug auf einer Uniform aussehen könnte.
Auf der Rückseite steht die Einladung
zu einem »Tag der Bundeswehr«
am nächsten Samstag.
Und drittens
Der Jubel auf dem Natogipfel:
Spanien will zwar immernoch keine 5%,
die werden trotzdem verkündet!
Trump grinst.
„Allerdings“ erst bis 2035,
2029 ist nochmal Prüfung,
in 4 Jahren wird also geschaut,
ob das so gegen Russland (und China und Indien und so weiter)
schon reichen würde.
Auf Deutsch:
Das größte deutsche Aufrüstungsprogramm ever;
kein Weltkrieg ohne Deutschland!
Und nur vielleicht
fangen wir ihn dieses Mal
wenigstens nicht an.
5 % vom deutschen BIP
entsprechen übrigens immer noch rund 218 Milliarden Euro,
also in etwa so viel
wie der gesamte (noch) aktuelle Bundeshaushalt
für Bildung,
Verteidigung
und Gesundheit zusammen;
klar also,
wo gespart werden wird.
Wegen Putin.

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 170.
„Logik und Argumente.“ Montag: Der ukrainischen Luftwaffe zufolge attackiert Russland sein Nachbarland in der Nacht mit 352 Drohnen und Drohnenattrappen, elf ballistischen Raketen und fünf Marschflugkörpern. Das Hauptziel ist Kiew. 11 Menschen sterben. Dienstag: Drohnen, Bomben und Raketen treffen Sumy, Cherson und Dnipro. 18 Menschen sterben. Mittwoch: Auf dem Nato-Gipfel spielt dieser Krieg nur eine Nebenrolle. Donnerstag: Kein Liveticker. Freitag: Cherson wird weiter aus der Luft angegriffen. Die ukrainische Verteidigungslinien in Sumy werden ausgebaut. Samstag: Die Ukraine zerstört in Marinowka (Wolgograd) zwei russische Bomber. In Odessa sterben zwei Menschen bei einem Drohnenangriff. Estland, Lettland und Litauen treten aus der Ottawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminen aus. Sonntag: In der Nacht werden Saporischija, Lwiw, Iwano-Frankiwsk, Tscherkassy und Kiew mit Luftangriffen überzogen. In Luhasnk schießt die ukrainische Armee zurück, 1 Zivilist stirbt. Auch das geplante 18. Sanktionspaket der EU wird nach Kremlangaben nicht zu einem Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine führen. „Nur Logik und Argumente können Russland an den Verhandlungstisch bringen“, sagt Kremlsprecher Dmitri Peskow dem Moskauer Staatsfernsehen.

 

Und damit also zu den ausgemachten Furunkeln
des speziell deutschen Weltschmerzes:
Weiterhin Eiter produzieren darf jetzt
doch erstmal noch
das Compact Magazin,
das Bundesverwaltungsgericht
hat demnächst noch viel dickere Bretter zu bohren,
dazu gleich mehr.
Uns André Poggenburg
kann sich jedenfalls wieder ungeniert
bei RT Deutsch darüber freuen,
wie viel Unrechtsstaat sich immer noch besiegen lässt.
Das war’s aber auch schon wieder
mit ausfließenden Geschwüren,
denn in Dortmund stehen Combat-18 Kader vor Gericht,
und sogar der Antifa-Tresen der Reiche
will im Ruhrpott
über Naziimporte von dort in Harzkreis referieren.
Immerhin ist in Sachsen-Anhalt
die Zahl der Rechtsextremisten
im vergangenen Jahr wieder gestiegen.
Das geht aus dem am Dienstag
vorgestellten Verfassungsschutzbericht hervor.
Demnach wird das rechtsextremistische Personenpotenzial
inzwischen auf rund 4.000 Personen geschätzt.
Nicht wenigen davon werden hier in der Nähe
Wohnungen vermietet.

Aber:
Der Kampf geht weiter.
Die Wehrhafte Demokratie dreht jetzt erst richtig auf:
„Aktivistmuss“ (ehemals „HoGeSatzbau“)
setzt jetzt voll auf
„KI gegen rechts“,
wahrscheinlich,
weil sich Faschos im Internet
einfacher zurückdrängen lassen
als auf den Straßen.
Nein, Spaß beiseite,
es ist passiert:
Die SPD hat,
vor wenigen Stunden erst,
zum Abschluss ihres Bundesparteitags
die Eröffnung des AfD-Verbotsverfahrens gefordert,
Lars Klingbeil hat dann auch seine „historische Aufgabe“ gefunden,
und Bärbel Bas ist zur Parteivorsitzenden gekrönt.
Jetzt liegt es allein noch an der CDU
zu zeigen,
wie das mit der Brandmauer gemeint war.

Es bleibt also abzuwarten,
ob es als stranges Omen der Geschichte gedeutet werden wird,
dass ausgerechnet jetzt
ein Buch die Spiegel Bestseller Liste anführt,
das bereits vor kaum weniger als 100 Jahren
zu Ende geschrieben wurde.
Das Manuskript von Sebastian Haffners „Abschied“
erscheint allerdings erstmalig im Juni 2025,
kann uns aber so
einen einzigartigen Vorgeschmack darauf geben,
wie es sich anfühlen wird,
wenn die Narben der Zivilisation
dann endgültig wieder aufbrechen,
und der Eiter der Vergangenheit
wieder frisch gelblich-braun
zu immer neuen Entzündungsherden führt.

Die großen, weißen Wolken
sind inzwischen verschwunden,
und vom blauen Himmel
knallt eine gnadenlose Nachmittagssonne,
doch noch 30°C.
Fast hinter uns
liegt also der heißeste Juni ever, again;
auf dem Markt lauschen die Touris
den Swing-Tagen,
denn unter großen Sonnenschirmen
schmeckt der Weißwein noch.
Die Hitzedome über dem Süden Europas,
47°C in Portugal,
Waldbrände in Griechenland,
30°C Wassertemperatur an der Westküste Italiens,
schieben sich langsam nach Norden,
für Mitte der nächsten Woche
sind für Süddeutschland
das erste Mal über 40°C angesagt.
Und erst vorhin habe ich,
denke ich,
die gelbe Hexe wieder fliegen hören,
die vor ein paar Tagen schon wieder
bis nach Goslar fliegen musste,
als am selben Tag Stürme über Berlin gezogen sind,
die mehr als ein paar der verbliebenen Bäume
umgeblasen haben (zwei mal).
Keine gute Zeit für Bäume.

Aber für Zäune.
Womit der Weltschmerz
für heute an sein Ende kommen soll,
um den weltschmerzfreien Geschichten
auch noch einen kleinen Rest
dieser Episode zu überlassen;
#DieDoppeltenZwanziger
dürstet es nach Schmerzmitteln.
Zäune jedenfalls
sollen jetzt auch endlich
um den Görlitzer Park gezogen werden,
die Dealer sind schnell
im Sommerloch verschwunden,
dicht gefolgt von Jeff Bezos „Traumhochzeit“ in Venedig
und einem Riesenwels,
der in Bayern von der Polizei erschossen wird.

Und ja, ihr ahnt richtig,
zum Basketball komme ich nur deshalb
sehr spät und unwillig,
weil wieder einmal tolle Geschichten
frühzeitig an ihr Ende gekommen sind,
oder gerade eine deprimierende Pause machen,
oder noch gar richtig angefangen haben:
Tyrese Haliburton reißt die Achillesferse
im ersten Viertel von Game 7
und die Pacers können in Oklahoma City
nur noch Kampfeswillen demonstrieren;
die Thunder gewinnen ihre erste Meisterschaft,
ein halbes Dutzend Superstars ihre Gesundheit.
Caitlin Clark struggelt zum ersten Mal
in ihrer Karriere über mehrere Spiele,
immerhin gewinnen die Fever trotzdem weiter.
Cooper Flagg ist in Dallas gelandet,
und seine Schultern scheinen breit genug
für die Unmenge an übergroßen Erwartungen,
die damit verbunden sind.

Und apropos große Erwartungen:
Am Ende des Sommerlochs wartet seit wenigen Tagen
das zehnte Studioalbum von Biffy Clyro,
die vorgestern noch eine Stunde lang
standesgemäß das Glastonbury abgefackelt haben.
Die Eröffnungsplatte der vierten Trilogie
heißt „Futique“,
und der Poststrukturalismus
hat seinen Humor wiedergefunden.

Den brauche auch ich im Moment,
denn ausgerechnet jetzt
hat mein Kühlschrank den Geist aufgegeben,
kühler als Leitungswasser
wird es wohl für ein paar Tage nicht.

Abschließend also nur noch ein paar Notizen,
die Abendsonne beginnt
mir den Schweiß auf die Stirn zu treiben.
Denn vor dem Weltschmerz
gibt es auch in der hinterletzten Provinz
kein Entkommen,
nicht mal wenn man sich richtig Mühe gibt:

– Die Friedensmesse von Karl Jenkins
in der Nikolaikirche
ist viel zu gut besucht,
die Stimmung viel zu ernst.

– Beim Wandertag winkt die Gen Alpha
schweren Transportern der Y-Tours zu,
erst dann kann sich das perfekte Drehbuch
für einen letzten Schultag entfalten:
Wandern im Schatten des Waldes,
Baden im warmen Teich,
Karten (oder zum ersten Mal „Imposter“) spielen
während eines heftigen Sommergewitters,
dann wieder Baden und Chillen bei bestem Sommerwetter
(und ohne Mücken),
abends Pizza am Lagerfeuer
und am nächsten Morgen
mit den Zeugnissen im Rucksack
zurück durch einen verregneten Hochwald.

– Im Gymnasium Thale ist zeitgleich natürlich
auch der letzte Schultag,
nur eben der allerletzte überhaupt.
Ehemalige Schüler*innen
weinen neben ehemaligen Lehrer*innen,
die letzten Klassen
toben in die letzten Sommerferien
auf den Höhen.
Was die aktuelle Bildungsministerin des Landes dafür kann,
das bleibt weiter ungeklärt,
geklärt aber scheint ihre Ablösung.
Sogar Susan Sziborra-Seidlitz bietet sich an,
doch ihre Forderungen sind einfach zu gut.

Tja,
und unter diesen ganzen Vorzeichen
wird es auch niemandem mehr schwer fallen,
sich vorzustellen,
wie so eine Kolleg*innenparty
zum Ferienanfang aussieht:
Stundenlanges, selbstreinigendes Luftmachen
meets
Gin Tonic, Weinschorle, Bier und Zigaretten
meets
Weltschmerz,
der auf nächtlichen Landstraßen
oder auf dem Kopfsteinpflaster
zurückgelassen wird.
Warten kann der auch.

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