Foto: Constanza, Hafenpromenade. 8. Juli 2024.
Constanza, 7. Juli
Tag 7: Sonntagspost
So.
Angekommen an der nächsten Meeresküste,
an der ich noch nicht war;
was so Provinzlehrer in den Sommerferien halt machen.
Bevor ich aber die lange Fahrt hierher rekapituliere
und dann noch ein bisschen was
über meine ersten Eindrücke von Constanza festhalte,
erstmal noch eine kleine Geschichte über Postkarten:
Es ist und bleibt ein Abenteuer,
USA oder ehemaliger Ostblock,
egal wo, man muss sich inzwischen echt Mühe geben.
Postkarten gibt es hier zwar in Hülle und Fülle,
aber anscheinend verschickt die niemand mehr,
denn um an Briefmarken zu kommen,
muss ich auch hier ein paar Umwege gehen.
In Brasov nämlich ins Postamt.
In dem inzwischen schon mehr als historischen Gebäude
sind zwölf Schalter
im Halbkreis unter einer Kuppel angeordnet.
Drei davon haben geöffnet.
Beim ersten warte ich zunächst viele Minuten,
bis ich mein Anliegen vortragen kann.
Wie viele ich denn bräuchte?
Na ja, so für zehn Postkarten nach Deutschland?
Die Frau schaut mich mit großen Augen an.
So viele hat sie nicht
und blättert in einem Plastehefter,
aus dem sie mir Marken für zwei Karten geben kann.
Ich solle es doch aber mal
an einem der anderen Schalter versuchen.
Das tue ich
und bekomme am Schalter gegenüber
dann tatsächlich die restlichen.
Das ganze dauert knapp eine halbe Stunde.
Das Schreiben der Karten wird kaum länger dauern,
aber das mache ich erst morgen,
wahrscheinlich maximal entspannt
am Schwarzmeerstrand.
Heute morgen jedenfalls
habe ich bereits ein paar handgeschriebene Zeilen hinterlassen,
und zwar an der Rezeption des Hotels,
an der zu so früher Sonntagsstunde noch niemand ist.
Da ich aber eine ziemlich lange Fahrt vor mir habe,
stibitze ich einen Zettel von hinter der Theke,
melde mich schriftlich ab
und hoffe, das reicht so.
Gegen halb 9 suche ich dann
als erstes eine Tankstelle,
nicht dass ich den Karpaten irgendwo
an den Straßenrand rollen muss.
Denn durch die darf ich dann
noch gute drei Stunden fahren,
hoch, runter, wieder hoch, wieder runter,
noch ein letztes Mal hoch
und dann ein letztes Mal wieder runter.
Die ganze Zeit über durch einen Wald,
in dem ich das noch ein ganzes Leben lang machen möchte,
so grün und friedlich steht der hier seit Millionen von Jahren.
In den Bergdörfern laufen viele Menschen
zu Fuß an der Straße entlang,
kommen von oder gehen zur Kirche,
oder tragen ihre Mittagseinkäufe nach Hause.
Die Luft vibriert vor lauter Idylle.
Am Fuße der Ostkarpaten weht der Steppenwind bei 35°C,
es ist Schlag Mittag.
Kurz nach Galati,
einer runtergekommenen, aber lebendigen Kohlestadt,
passiere ich eine riesige Hängebrücke,
die Podul de Braila,
und das unter mir kann also nur die Donau sein.
Noch einmal wird die Landschaft bergig,
ich kann nicht anders
als mich an das Central Valley vor einem Jahr zu erinnern,
die Hänge glänzen genauso golden
unter dem absolut wolkenlosen Himmel,
in den Dörfern liegen Kinder
in riesigen Melonenhügeln am Straßenrand,
und zwischen den Orten
stehen Trilliarden von Sonnenblumen,
die ihre Köpfe erschöpft hängen lassen.
Gegen 15 Uhr erreiche ich dann Tulcea.
Von hier aus würde es nur mit dem Boot
weiter hinein ins Donaudelta gehen.
In der Hafenstadt herrscht bei 36°C
ohrenbetäubende Ruhe.
Die Grenze zur Ukraine
liegt gleich auf der anderen Seite des Flusses.
Kriegsprotokoll. On the Road. Going East. Alone again.
Woche 123
Tschassiw Jar, Pokrowsk und eine neue Strategie für das Schwarze Meer. Montag: In Belgorod schlagen an drei verschiedenen Orten ukrainische Geschosse ein, stundenlang fällt der Strom aus, Brjansk und Kursk werden mit Drohnen attackiert. In Dnipro schlägt eine russische Rakete ein. Um Prokowsk (Donezk) wird weiter verlustreich gekämpft. Der SBU gibt die Verhinderung eines Umsturzes am Wochenende bekannt, vier Männer hatten eine „provisorische Regierung“ bilden wollen. Russland meldet die Einnahme weiterer Dörfer bei Charkiw und Donezk. Rheinmetall unterzeichnet den nächsten Milliardenvertrag: 6.500 Fahrzeuge werden für die Bundeswehr gebaut. Dienstag: Viktor Orban ist das erste Mal seit Kriegsbeginn in Kiew und legt dem Land eine Waffenruhe nahe. In Poltawa zerstört die russischen Luftwaffe 5 ukrainische Kampfjets. Die USA kündigen die nächsten 2.300.000.000 Militärhilfe an (vor allem für Patriots). Die Ukraine beginnt demnächst Strom aus der EU zu importieren. Mittwoch: Die Nato baut die „zivile Präsenz“ in Kiew aus. Die Ukraine ist offen für Vorschläge, um einen „gerechten Frieden“ zu erreichen, der Präsident lässt jedoch wissen: „Wir sind nicht bereit, Kompromisse bei den sehr wichtigen Dingen und Werten einzugehen: Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, territoriale Integrität, Souveränität.“ In Dnipro sterben mehrere Menschen bei einem russischen Raketenangriff. Der IWF zahlt weitere 2.000.000.000, von der Nato gibt es im nächsten Jahr weitere 40.000.000.000. Putin trifft Xi in Kasachstan. In Tschassiw Jar wird das erste Stadtviertel von der russischen Armee erobert. Olaf Scholz gibt eine „persönliche Garantie“, das Deutschland keine Kriegspartei wird. Bei einem ukrainischen Angriff auf das AKW Saporischija werden mehrere Mitarbeiter verletzt. Der Bundestag stimmt dem Kauf von über 100 Leopard-Panzern zu. Um Pokrowsk wird immer erbitterter gekämpft. Donnerstag: Die Ukraine bestreitet die Einnahme von Teilen von Tschassiw Jar, weil: „Wir sehen kein Nachlassen der Artillerieangriffe. Der Feind setzt Artillerie und Mehrfachraketenwerfer ein.“ Im Zentrum der Ukraine schlägt eine russische Iskander-Rakete auf einem Militärflugplatz ein. Auch Saporischija (nicht das AKW) steht wieder unter Beschuss. Noch vor dem Mittag ziehen sich die ukrainischen Streitkräfte aus dem umstrittenen Teil von Tschassiw Jar zurück. Orban und Modi kündigen einen Besuch in Moskau an. Freitag: 350 Kilometer hinter der Grenze wird eine russische Munitionsfabrik getroffen. Stoltenberg hofft, die Ukraine wird innerhalb der nächsten zehn Jahre Nato-Mitglied. Die russischen Schwarzmeerflotte ist zu großen Teilen ins Asowsche Meer verlegt. Orban inszeniert sich in Kiew als Friedensstifter. Die EU fühlt sich leicht übergangen. Die russische Armee rückt in Tschassiw Jar weiter vor. Samstag: In Sumy sind nach russischen Drohnenangriffen sämtliche Haushalte für nicht unwesentliche Zeit ohne Wasser und Strom. Wieder schlagen Lenkbomben ein, dieses Mal in Donezk, dort wird auch das nächste Dorf „befreit“. In Krasnodar gehen Treibstofflager in Flammen auf. Japan und Kambodscha bieten ihre Hilfe und Expertise beim Beseitigen von Landminen an. Chinesische Soldaten sind zu einer Übung in Belarus eingetroffen. Sonntag: Die Lage in Prokowsk bezeichnet Kiew als „heiß“. In Odessa zerstört die russische Luftwaffe Patriot-Attrappen. Im russischen Woronesch wird nach einem ukrainischen Drohnenangriff der Ausnahmezustand ausgerufen, ein Munitionsdepot wurde getroffen. Ein weiteres Dorf in Donezk steht unter russischer Kontrolle. Zwei Raffinerien in Krasnodar brennen. Selenskyj will die ukrainische Schwarzmeerflotte neu ausrichten (die Interessen und Handelsrouten der Partner schützen).
Die Uhr meines Bordcomputers zeigt halb 4,
als ich durch das Fahrerfenster
das erste Mal
das Schwarze Meer sehe.
Rechts steht ein riesiger Windpark,
der warme Wind riecht nach Salz.
In der Hotellobby in Constanza
sitze ich gute 90 Minuten später.
Der Verkehr in der Stadt
macht den Eindruck,
als ob sich halb Rumänien hier befindet,
inklusive irgendwelcher hohen Tiere;
es gibt Straßensperren,
und schwarze Nobelkarossen fahren hinter einem Polizeikorso her.
Kurz vor dem Hotel werde ich angehalten
und erst durchgelassen,
als ich dem Polizisten die Adresse meines Hotels zeige.
Und in dem warte ich dann fast eine Stunde,
bis ich auf die Idee verfalle,
doch mal irgendwen anzurufen.
Die Rezeptionistin geht erst nach dem zehnten Tuten ran:
Ja, meine Zimmerkarte liegt in dem aufklappbaren Globus,
es tut ihr leid, aber wir würden uns erst morgen sehen.
Ich klappe den Globus auf,
den ich bis jetzt für eine dieser antiken Whiskybars gehalten habe,
finde dort tatsächlich die Karte,
daneben einen handgeschriebenen Zettel:
„Enjoy your stay!“
Erleichtert hole ich meinen Rucksack aus dem Auto,
verstaue notdürftig meine Sachen im Schrank
und kann dann endlich essen gehen.
In der Pizzeria gegenüber
schleicht eine schwarze Katze um die Tische,
es läuft launige Lounge-Musik,
über mir lachen sich ein paar Möwen schlapp
über die aufgestylten Touris,
die sich selbst beim Flanieren fotografieren
oder dabei, wie sie orangene und pinke Drinks schlürfen.
Dass hier tatsächlich die rumänische Schickeria Urlaub macht,
erkenne ich spätestens dann
als ich sehe,
dass die Pizzeria auch Treffpunkt für den Lions Club ist.
Die Spitze der Dekadenz
bildet dann eine Gruppe Schweizer Millenials,
die neben mir Platz nimmt,
und von denen einer ein T-Shirt trägt,
auf dem in hippen Lettern „Fick“ steht.
Die Pizza schmeckt trotzdem vorzüglich.
Und jetzt, es ist kurz nach 22 Uhr,
stelle ich fest,
dass ich erstens nicht der einzige bin,
der beim alleine in Straßencafés sitzen
schief angeguckt wird
(vor mir sitzt ein Leidensgenosse),
sondern auch,
dass ich anscheinend inzwischen
auch in Cafés ganz gut schreiben kann.
Wäre da nur nicht der braungebrannte Boomer,
der neben mir eine echt eklig stinkende Zigarre raucht,
während er seiner Frau/Geliebten irgendwas mansplaint.
Aber hier scheinen sogar die News besser zu sein
als zu Hause am Schreibtisch:
Nach dem UK
kriegt jetzt wohl auch Frankreich
eine eher linke Regierung.
Gut.
Wie viel ich in den nächsten Tagen noch schreiben werde,
das weiß ich noch nicht.
Nur dass es einige Postkarten werden,
das weiß ich.
Briefmarken habe ich ja genug.
Constanza/Bukarest /Frankfurt(Main)/Halle(Saale), 10. Juli
Tag 8, 9 und 10: Sonne und Beton
Ein bisschen abenteuerlich wurde es dann doch noch,
aber nichts wofür ich die Chronologie abändern müsste:
Mein erster Tag am Schwarzen Meer jedenfalls
war maximal entspannt,
bei 37°C Außentemperatur
war aber auch nicht viel mehr drin
als faul im klimatisierten Hotelzimmer rumzuliegen
und zwischendrin mal kurz was einkaufen zu gehen.
Erst gegen halb 5 hab ich mich dann aufgerafft
und bin die paar Meter zum Strand gelaufen.
Ein „Problem“ beim Individualtourismus ist ja,
dass niemand da ist,
der auf die Sachen aufpassen kann,
wenn man, zum Beispiel,
mal im Schwarzen Meer baden will.
Da der Modern Beach in Constanza
an diesem Montagnachmittag dicht belegt ist,
habe ich diesen Teil also auf den nächsten Tag verschoben
und mich stattdessen an eine Strandbar gesetzt,
meine Postkarten fertig geschrieben
und einer menge Leute dabei zugeschaut,
wie sie das gestern zu Ende gegangene „Neversea“-Festival abgebaut haben.
Dass ich da nichts groß verpasst habe,
beweist die Tatsache,
dass einer der Hauptacts dieser Sommersause
allen Ernstes Nick Carter (Backstreet Boys) war.
Das dafür abgesperrte Areal
nimmt mehr als die Hälfte des öffentlichen Strandes ein,
auch deswegen also liegen
die Menschen hier wie die Sardinen.
Im restlichen Touriviertel und an der Promenade
ist momentan jedoch absolut gar nichts los:
Immer noch Siesta.
Zeit deswegen,
mir so meine Gedanken zu machen,
zum Beispiel über Fassaden.
Über verfallene,
über frisch renovierte,
über Fassaden von Gebäuden,
oder die Fassaden von Menschen.
Darüber dass gerade hier,
in so Tourihochburgen,
letztere besonders viel verstecken.
Die Make-Up- und Fette-Karren-Dichte
ist geradezu erschreckend.
Zeigt Rumänien hier nur ein besonders teures Gesicht,
weil es sonst überall ganz anders ist?
Und ist das zu Hause nicht ganz genauso?
Inzwischen sind auch an der Strandbar bald 40°C,
der Seewind hat nachgelassen,
und mein Gehirn ist anscheinend
ebenfalls kurz vorm Garpunkt.
Um meine Eindrücke und Vorstellungen
wieder auf Normaltemperatur runterzukochen,
gehe ich um kurz nach 6 spazieren,
und zwar nicht an der Promenade entlang,
oder flanierend durchs Viertel,
sondern in Richtung Stadt,
dorthin wo die Touridichte
schlagartig abnimmt.
In Constanzas Innenstadt sieht es so aus,
wie in vielen europäischen Innenstädten,
nur mit deutlich mehr Patina
als in, sagen wir mal, Leipzig.
Zwischen aufgemöbelten Gründerzeitgebäuden
stehen halbe Ruinen aus der selben Epoche,
zwischen abgefuckten Plattenbauten
neu hochgezogene Wohnblocks.
Eine der Hauptpromenaden
ist bestückt mit McDonalds, H&M
und den anderen üblichen Konsumtempeln,
sowie kleinen Läden, in denen man eigentlich fast alles kaufen kann.
Vor der Tomis Mall sammeln sich Teens und Familien.
Nur zwei Blocks weiter
liegt dann einer der vielen Parks,
in dem, im Gegensatz zu Parks
in, sagen wir mal, Hannover,
echt was los ist,
und zwar das komplette Programm:
Bei immer noch über 30°C (kurz nach 20 Uhr)
gehen hier Rentnerpärchen Hand in Hand spazieren,
frisch verliebte Twentysomethings
rücken auf den vielen, vielen Bänken nah aneinander,
Kinder spielen Fangen,
um Denkmäler, deren Bedeutung sie nicht kennen,
oder alle möglichen Arten von Ballspielen.
Mit der Sauberkeit verhält es sich normal,
nicht zu klinisch,
aber auch lange nicht so zugemüllt,
wie die Vorurteile über Osteuropa es behaupten.
Kurzum: Es ist schön.
Zurück auf der Hafenpromenade
herrscht wieder gut Betriebsamkeit.
Bei Sonnenuntergang das gleiche Bild wie in den Parks,
nur mit deutlich mehr aufgesetzter Heiterkeit
und deutlich mehr Geflexe vor Handykameras.
Das berühmte Kasino ist eingerüstet,
das Riesenrad leuchtet,
vor den Eiswagen stehen kurze Schlangen
und auf einigen Bänken musizieren Musiker*innen,
als ob es Sommer ist,
am Schwarzen Meer.
Nur die Betonriesen,
die sich beinahe nahtlos aneinanderreihen,
die stören irgendwie.
Am vorletzten Tag
ist es schon kurz nach 8 Uhr
über 30°C warm,
die Nacht war also tropisch,
und nur mit Klimaanlage
war an Schlaf zu denken.
Beim online Strandcheck,
beim outdoor Hotel-Frühstück,
stelle ich fest, dass ich wohl eine halbe Stunde fahren muss,
um das Schwarze Meer ohne Megahotels im Rücken
besuchen zu können.
Dazu fahre ich durch Mamaia,
einer kaum einen Kilometer breiten,
dafür aber fünf Kilometer langen Landzunge
nördlich von Constanza.
Und ehrlich,
so viel Beton auf so wenig Boden
habe ich noch nie gesehen.
Die Gebäude sind absurd groß
und über die Hälfte davon befindet sich noch im Bau.
Riesige Wohnkomplexe mit Eigentumswohnungen
und Fünf-Sterne-Deluxe-Hotels entstehen hier
neben anderen riesigen Wohnkomplexen
und noch mehr Fünf-Sterne-Deluxe-Hotels.
Das einzige, das hier nicht nach Geld riecht,
sind die kaputten Fußwege,
auf denen aber auch kaum jemand geht,
die Straßen sind bis hierhin
deutlich besser als ihr Ruf.
Nur ein paar Kilometer weiter
pfeift der Sand über den Strand von Corbu;
so fühle ich die inzwischen gut 40°C kaum,
genieße dafür aber ein angenehmes Dauerpeeling.
Gegen Mittag sitzen oder liegen
hier nur noch sehr wenige Menschen vor der Brandung,
das Wasser hat locker 26°C.
Ich bade gleich zwei mal.
Dann geht es über die holprigen Schotterwege
zurück in die Betonwüste.
Und kaum ein paar Minuten später,
auf dem einzigen nicht frisch geteerten Teil
der Schnellstraße in Mamaia:
Ka-BOOM!
Das war mindestens ein übersehenes Schlagloch,
wenn nicht sogar ein viel zu tief liegender Gully.
Nach nur wenigen Sekunden
hört sich mein vorderes linkes Rad
auch gar nicht mal mehr so gut an,
ich fahre links ran.
Und japp,
der Reifen ist tatsächlich platt;
mein Puls überschreitet kurz die 70.
Einige Nachrichten fliegen hin und her,
erst mit der Autovermietung,
dann mit dem Abschleppdienst
und der nächsten Werkstatt,
und dann erwarte ich
auf der Terrasse des Meara Negra Hotels
mein Schicksal,
während ich die Gondeln,
die über meinem Kopf schweben,
bestaune.
Kaum eine Stunde später
sitze ich im Tow-Truck eines rumänischen Vollprofis,
der sich schnell darüber lustig macht,
dass ich so gut wie kein Wort Rumänisch spreche,
geschweige denn welches verstehe;
so viel verstehe ich jedenfalls.
Wir kurven durch die engen Straßen
der Arbeiter*innenviertel von Constanza,
bis wir eine Straßenwerkstatt erreichen,
das Lustigmachen geht weiter,
ich kann es den Männern nicht verdenken.
Zumal sie mir innerhalb von nicht mal 20 Minuten
den Reifen wechseln.
Gäbe es so etwas wie eine seriöse, wohlwollende Karikatur
eines rumänischen Kfz-Mechanikers,
ich müsste sie von dem Mann zeichnen,
der dieses (für mich) Wunder vollbringt,
kein Handgriff ist zu viel,
jeder davon sitzt;
und schon kann ich weiterfahren;
ich lege all meine Dankbarkeit in meinen Blick,
meine Worte hätten so oder so nicht gereicht.
Am Abend bleibt mir dann nur noch das Packen
und nebenbei müde, aber angefüllt mit noch zu viel Adrenalin,
das erste EM-Halbfinale zu schauen,
bis ich weit nach Mitternacht einschlafe,
morgen muss ich früh los,
der Flughafen in Bukarest ist drei Stunden entfernt,
mein Flug geht um halb zwei,
und wer weiß schon,
wie viele Schlaglöcher
es noch auf mich abgesehen haben.
Aber: Alles gut.
Ich bin pünktlich bei der Autovermietung,
alles ist geklärt,
und ich warte gemeinsam mit einem niederländischen Paar darauf,
zum Flughafen geshuffelt zu werden.
Sie erzählen von einer Hochzeit in Bulgarien,
von der sie gerade kommen,
und von einer Schauergeschichte aus den Karpaten,
von der sie vorgestern gehört haben:
Eine junge Frau sei beim Austreten im Wald
von einem Bären „gekidnappt“ worden,
und ihre Leiche wäre erst am nächsten Tag gefunden worden,
hätte aber noch nicht gleich geborgen werden können,
weil der Bär noch nicht fertig mit ihr gewesen wäre.
Ich nicke ungläubig
und wir wechseln das Thema,
denn klar, heute Abend
spielen ja die Niederlande gegen England.
Ich bin überpünktlich am Gate
und vertreibe mir die Zeit mit Schreiben
und Menschen beobachten.
Als unser Flugzeug leicht verspätet eintrifft,
kommen auffällig viele junge und sehr große Männer
durchs Gate:
Die ukrainische U-20 Basketballnationalmannschaft;
wozu dieser Sport doch nicht alles taugt…
Im Flugzeug dann:
Rechts neben mir die aktuelle Version der Shoemakers,
die mir meinen Fensterplatz geklaut haben,
und links über den Gang
ein, dem Geruch zufolge, junger Kettenraucher
mit völlig übertriebenem Zauselbart.
Rechts wird sehr schnell eingeschlafen,
links liegen in einer Tüte unter dem Vordersitz
gut und gerne acht Stangen Zigaretten
und es werden drei Helle bestellt,
die innerhalb der nächsten Stunde geleert werden.
Der Flug hat weiterhin Verspätung,
ich bange ein nächstes Mal,
denn den Zug in Frankfurt sollte ich nicht verpassen,
sonst schlafe ich heute doch noch auf irgendeinem Bahnhof.
Wie sehr aus der normalen Spur
ich nach 10 Tagen Urlaub bin,
zeigt sich daran,
dass ich noch massig Zeit habe,
als wir in Frankfurt landen;
Zeitverschiebung!
Dann mache ich es eben selbst noch mal spannend,
indem ich oberschlau die S-Bahn zum Hauptbahnhof nehme,
die zehn Minuten eher fährt
als die Regionalbahn auf meinem Ticket,
dafür aber natürlich viel länger braucht,
was ich aber rechtzeitig mitbekomme,
an der nächsten Haltestelle schnell wieder aussteige,
zurückfahre und es geradeso noch so
in den eigentlichen Zug schaffe.
Ich bin also nicht unbedingt schlauer als die Deutsche Bahn,
dafür aber pünktlicher,
denn mein Zug nach Halle fährt 20 Minuten zu spät ab.
Willkommen
zurück
zu Hause.

0 Kommentare