Teil 1 – Shake it out
„Sure, all men are created equal.
Here’s the church, here’s the steeple.
Please stay tuned, we cut to sequel.
Ashes to ashes, we all fall down.
Broadcast me a joyful noise
unto the times, Lord.
Count your blessings.
Ignore the lower fear
Oh, this means war.
It’s been a bad day,
please don’t take a picture.
It’s been a bad day,
please.“
(R.E.M.: Bad Day. 1985/2003.)
Nur ein Tag,
nur ein paar Stunden
haben gereicht:
Es gibt ihn noch!
Den internationalen Zusammenhalt!
Freude! Schöner Götterfunken!
Schiller würde jetzt … ,
was weiß ich, was der würde.
Aber klar,
mindestens eine Tragödie draus machen;
die Weimarer Gesellschaft,
die Gründergeneration des modernen Humanismus,
möchte ihre Empathiekatharsis doch bitte
auf gepolsterten Sitzen durchleben.
In der Ersten Reihe.
Im Paradies.
Tochter aus Elysium!
Wo warst du nur an diesem Tag?
In der Bestürzung vereint
sitzen sie vor der Bühne,
auf der Welten in sich zusammenstürzen,
wie aus morschen Brettern
schlecht gebaute Häuser.
Und wer jetzt denkt,
das war zu viel Pathos,
der war in der letzten Woche
nicht auf diesem Planeten.
Denn das war die Woche
mit den Erdbeben.
Insgesamt ungefähr 250.
Unter dicht besiedeltem Gebiet.
Die verheerendsten Landbeben der Geschichte.
Und das ist leider keine Hyperbel.
Nur die beiden letzten Seebeben
(2011 Japan, Fukushima
und 2004 Indonesien)
waren noch zerstörerischer.
Die drei Hauptbeben
ereigneten sich am Montag Morgen.
Und nur Stunden später war klar,
wie der Schrecken der kommenden Tage abläuft,
spätestens Mittwoch würden wieder
andere Sachen wichtiger werden.
Unvorstellbar und doch logisch absehbar.
Eine wirkliche Tragödie fünf Akten.
Und fast ausschließlich
in Titelschlagzeilen verfasst:
Akt 1 – Montag
Vier Uhr morgens.
Nach mehreren (nicht ganz ungewöhnlichen)
kleineren Vorbeben
erreicht das erste der drei Hauptbeben
eine Stärke von 7,8.
Hunderttausende Menschen
im Norden von Syrien,
in Rojava
und in der südöstlichen Türkei
(also im Zentrum von Kurdistan)
schrecken aus dem Schlaf.
Unzählige davon werden
nie wieder aufwachen.
Am ersten Tag ist die gesamte Welt
in ungläubiger Schockstarre.
Nur die Zahlen helfen uns zu verstehen.
Die ersten Meldungen sprechen
von mehr als 100 Opfern.
Nur Stunden später sind es 1.000.
Am frühen Nachmittag: 1.800
(250 in Rojava),
am Abend:
mindestens 3.000
und weitere tausende
Verletzte,
Vermisste,
Obdachlose
im Winter.
Sämtliche Nachbarstaaten,
die EU, die Nato, die Uno,
selbst Pakistan, alle bieten sofort ihre Hilfe an.
Spendenorganisationen arbeiten Überstunden,
als wäre genau diese Tragödie wirklich geschehen.
Die Türkei verkündet umgehend
eine einwöchige Staatstrauer..
In dieser Nacht schläft niemand gut.
Akt 2 – Dienstag
Die morgendlichen,
neuen Opferzahlen:
4.200+,
4.400+,
5.300+,
7.200+,
es ist noch nicht einmal Mittag.
Der Rest der Welt sagt Hilfe zu:
Australien, Neuseeland, Japan,
Taiwan, Südkorea, China,
die gesamte Arabische Welt.
Inzwischen sind
die ersten IS-Kämpfer
aus zerstörten Gefängnissen geflohen.
23 Millionen Menschen sind insgesamt betroffen,
immer noch haben sich
die Platten nicht beruhigt.
Auf den kaputten Straßen
erfrieren die Obdachlosen,
die ersten UN-Hilfskonvois kommen nicht durch.
Anna-Lena Baerbock fordert die Grenzöffnung
zwischen der Türkei und Syrien.
Am Mittag ruft Erdogan
den nationalen Notstand aus,
die Grenzen bleiben geschlossen.
Akt 3 – Mittwoch
Es hört nicht auf:
8.500+,
9.400+,
mittags: 10.000+, 11.000+, 11.700+.
Überall Halbmast.
Erdogan besucht die Trümmer.
Nur fürchterliche Bilder.
Langsam wird die Ungleichheit
der internationalen Solidarität sichtbar.
Der mdrKultur spricht vom
„vergessenen Bürgerkriegsland“.
300.000 Menschen in Syrien
müssen ihre Wohnung verlassen.
Ein wichtiger Containerhafen
kann nicht gelöscht werden.
(Unterdessen:
Verheerende Erdrutsche in Peru.)
Die türkische Börse
setzt den Handel für diese Woche aus.
Am Nachmittag sind die Beben
das erste Mal
kurz nicht mehr
die Kopfzeile sämtlicher Newsoutlets.
Wenigstens eine Straße nach Syrien
ist wieder befahrbar.
Akt 4 – Donnerstag
15.000+,
16.000+,
17.000+,
19.000+,
20.000+,
…
Die tragischsten Opferzahlen
eines Landbebens aller Zeiten.
Weder Koran noch Bibel
kennen solches Leid.
Der kurdische Rote Halbmond berichtet,
dass die Türkei weiterhin
Gebiete in Nordsyrien bombardiert
und gleichzeitig die Grenzen
für Hilfslieferungen geschlossen hält.
Ausnahmezustand.
Öffentliche Einrichtungen,
Organisationen oder „juristische und natürliche Personen“
in der Region werden dazu verpflichtet
unter anderem Ausrüstung,
Grundstücke, Gebäude, Fahrzeuge
oder Medikamente abzugeben.
Und allen wird unverhohlen gedroht,
die in der Türkei
„Unfrieden und Zwietracht säen“.
Die Weltbank einigt sich am Abend
auf knapp zwei Milliarden.
Mehr ist anscheinend erstmal nicht drin.
Den Rest gibt die Zivilgesellschaft.
Und Applaus für die Helfer*innen.
Akt 5 – Freitag
30.000.
Mindestens.
Mindestens 10.000 davon
noch unter den Trümmern.
Für diese Meldung
muss man in Deutschland
zu diesem Zeitpunkt
schon wieder einige Zeit
nach unten scrollen.
Ende.
Und, Friedrich?
Was meinst Du?
Diese Wiederaufführung
war doch ein Erfolg!
Gut besucht,
reichlich was im Klingelbeutel,
und mit der heute üblichen
Zweit-, Dritt-, Viert- und Fünftauswertung
lassen sich noch ein paar Wochen
die Lücken füllen.
Immer noch ein Platz
für vergangene Tragödien.
„Passen sich menschliche Denkweisen den Algorithmen von Social Media an und vergessen jeden Tag aufs Neue, was 24 Stunden zuvor noch weltbewegend war? Oder ist es der ganz normale Opportunismus, der schon immer alles Elend der Welt stillschweigend ermöglicht hat?“
(Juli Zeh/Simon Urban: Zwischen Welten. 2023.)
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