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Zeitenwenden (Chronicle 8)

von | 2022 | 6. März | Chronicle

„Nicht so ist es, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern das Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf, sondern Bild, sprunghaft. – Nur dialektische Bilder sind echte (d.h.: nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.“

(Walter Benjamin: Das Passagen Werk. ab 1927)

 

Die Zeit zum Schreiben war dem Brillenträger in den letzten Tagen buchstäblich davon gelaufen. Auch wenn er sich noch so viel Mühe gegeben, seinen Job gekündigt und gar nicht mehr geschlafen hätte, wäre er mit Sicherheit an dem Unternehmen gescheitert, die neue Weltlage seit dem Kriegsausbruch irgendwie sinnvoll ordnen zu können. Alle schrieben, redeten, posteten und klatschten durcheinander. Keine Meldung, auf die nicht wenige Minuten später schon wieder der nächste Hammer folgte. Zwischen Berichterstattung und Propaganda war kein Unterschied mehr zu erkennen. Egal wohin man schaute: Alle hatten Angst.
Und alle gingen unterschiedlich damit um. Hatte schon die Pandemie tief verscharrte Muster bei den Menschen offengelegt, potenzierte sich dieser Prozess jetzt erneut um ein vielfaches, und wieder hatte niemand recht. Auch wenn es alle besser wussten. Dachten sie.
Als der Krieg keine vier Tage alt war, und sich jeder vorläufig mit einer Seite solidarisiert hatte, als sich in Berlin eine halbe Million Menschen auf der Straße des 17. Juni, der großen Ost-West-Achse der Hauptstadt versammelt hatten, und die alles übertrahlenden Farben blau und gelb waren, schien sich auch die Bundesregierung sicher zu sein: Keine fünf Fußwegminuten entfernt verkündete der Kanzler seinen Plan: Noch krassere Sanktionen, Friedensforderungen und 100 Milliarden Euro „Sondervermögen“ für die deutsche Aufrüstung, sowie eine drastische Erhöhung des deutschen Beitrags der Natokosten. Der Brillenträger konnte förmlich hören, wie sich Karl Liebknecht im Sarg erheben wollte, und wie sich der militärisch-industrielle Komplex auf der anderen Seite des Atlantiks, weit weg vom Krieg in Europa, auf die Schenkel klopfte. Allein das Wort „Sondervermögen“ erschreckte ihn wie selten etwas zuvor, erinnerte er sich doch, dass die Vorsilbe „Sonder“, im Zusammenhang mit Krieg übersetzt, in der deutschen Sprache immer hieß: Exekution. Und noch erschreckter stellte er sich die Frage, wer es wohl sein würde, der als erstes die Wiedereinführung der Wehrpflicht fordern würde. Warum ihm dabei Christian Lindner zuerst einfiel, das konnte er sich noch nicht ganz erklären. Immerhin, irgendwer würde ja die Rechnungen für die neue Tötungsmaschinerie bezahlen müssen. Vor allem aber war ein Wort aus der historischen Regierungserklärung hängengeblieben, und zwar in allen Ritzen und Falten des Internets: Die „Zeitenwende“. Der Brillenträger hatte nur entkräftet mit dem Kopf geschüttelt: Schon wieder? Und schon wieder nicht zum Guten?
Eine Woche nach Kriegsbeginn titelte dann die Tagesschau allen Ernstes eine absurde Frage. Irgendwo zwischen den anderen Schlagzeilen sollte man sich doch mal am Kopf kratzen: „Zeitenwende – auch für Pazifisten?“ Am nächsten Tag erwischte er sich dann dabei, wie er in der Diskussion mit seinen noch nicht erwachsenen Schülern das erste Mal seit einer Woche sehr klar Stellung bezog. Beziehen musste. Obwohl er eine Woche lang alles gegeben hatte, um wenigstens zu versuchen, der schleichenden Kriegseuphorie im Schatten dieses ohren- und augenbetäubenden Kriegs mit irgendeiner Form von differenziertem Denken zu begegnen, wobei er sich nicht selten auch selbst in Widersprüche verstrickte. Aber vor allem das hatte diese Zeitenwende nun mal auch das mit sich gebracht: 16jährige Jungs, die mit Glanz in den Augen von heldenhaften Soldaten schwärmten, die doch ihr Vaterland verteidigten. Die doch letztendlich die europäische Idee von Freiheit und Demokratie beschützten. Die sterben würden, um den Befehlen ihres Präsidenten in die Ruhmeshallen des Krieges zu folgen; tot oder lebendig. 16jährige Jungs, die Krieg nur aus Filmen und Computerspielen kannten, wie auch schon ihre Väter. Da hatte ihm der Zufall einen Auszug aus Brechts Kaukasischem Kreidekreis in die Hände gespielt: Im Arbeitsheft zur Vorbereitung auf den Realschulabschluss. Die liebende und weise Mutter, die ihr Kind loslässt, um es nicht im Streit zerreißen zu müssen. Der Weg zu den Gewehren der Frau Carrar war dann denkbar kurz, und er konnte sich wenigstens selbst versichern, dass der Pazifismus zumindest in Gedanken noch Sinn machte.

 

„Warum sollte ich für die Generäle sein?
Ich bin dagegen, dass Blut vergoßen wird.

Ich will nicht, dass meine Kinder Soldaten werden.
Sie sind kein Schlachtvieh.“

(Bertolt Brecht: Die Gewehre der Frau Carrar. 1937)

 

Den fragenden, ja enttäuschten Gesichtern der Jungs mutete er dann noch einen letzten Satz zu, von dem er nur noch hoffen konnte, dass er wahr wäre: „Im Krieg gibt es keine Helden.“

Was es im Krieg allerdings gibt, das ist Leid. Unsägliches Leid. Und es gab, besonders in diesen Tagen: Bilder. Unzählige, immer nur schrecklichere Bilder. Vor zwei Wochen noch scrollten die selben Jungs und Mädchen bei TikTok und Insta Katzenbilder, Gags mit Atemmasken und schöne Menschen nach oben weg. Jetzt sahen sie Soldaten, Gewehre, Panzer, Explosionen. Und ein bis heute ungeahntes Maß an Kriegspropaganda. Gräuelmärchen, Lügen von allen Seiten und patriotische Selfies aus den umkämpften Gebieten. Dazwischen Werbung, Influencer und die Bundesliga. Der Krieg war keine zwei Wochen alt und schon normalisiert. Digital first, Bedenken second.

Im Internet der Erwachsenen aber, in der Welt, in der Pushnachrichten auf Schwarzen Spiegeln schon lange begonnen hatten, die Zeit neben Familie, Arbeit und Müßiggang neu zu ordnen, im globalen WeltZeitSpiegel, gab es neben den Bildern noch viel schrecklicheres: Worte und Sätze, die der Zeitenwende auf die Sprünge helfen sollten.
Am zweiten Sonntag des Krieges waren sich alle drei weitgehend einig, Die Welt, Die Zeit und Der Spiegel. Die Zeit schrieb in Hamburg von „Neuen Missionen“, von der Stärkung der Nato im Osten, und davon, wie groß diese Aufgabe war. Die Welt sekundierte ungewohnt großherzig mit einem Portrait des Kanzlers: „Wo ist Scholz?“, hieß es noch unlängst. Nun steuert der Bundeskanzler Deutschland durch die Zeitenwende und vollzieht im Ukraine-Krieg historische Kurswechsel.“
Und im Liveticker des Spiegels (ebenfalls live aus Hamburg) versuchte man sich sogar unfreiwillig im Treppenwitzsteigen, denn die Meldungen waren einfach zu aberwitzig: „Washington arbeitet US-Medienberichten zufolge mit Polen an einer Vereinbarung über die Lieferung von Kampfflugzeugen aus der Sowjetzeit an die Ukraine. Im Gegenzug könnten die USA Polen mit F-16-Kampfjets aus US-Produktion beliefern.“

Den Vergleich mit 1914, wie er in diesen Tagen wieder überall in Mode gekommen war, wollte der Brillenträger immer noch nicht ziehen. Klar, die Parallelen waren schon beinahe überdeutlich. Zu allem Überfluss machten seit wenigen Stunden sogar noch erste Berichte über nationalistische Solidarisierungsdemos (mit Russland) in Serbien die Runde. Die Friedensdemonstrationen in ganz Europa hatten allerdings bereits den üblen Beigeschmack des Nationalismus, oder mindestens des Blockdenkens. In Prag lobte der ukrainische Präsident per Videoschalte vor fast einer Million Menschen die Tapferkeit seines Volkes, und begeistertes Raunen hallte durch die Mengen. Niemand schien zu ahnen, was noch kommen sollte, alle hofften noch auf den Sieg der opferbereiten Ukrainer, mit denen man sich auf social media solidarisierte, für die man spendete, denen man half, und ansonsten ganz fest die Daumen drückte.
Auch den Vergleich mit dem Kalten Krieg wollte der Brillenträger scheuen, obwohl es, ebenfalls erst seit wenigen Tagen, sogar wieder den „Heißen Draht“ zwischen Washington und Moskau gab, und die Bedrohung der ukrainischen Atomkraftwerke 1986 wie morgen aussehen ließ.
Auch dem Spanischen Bürgerkrieg von 1937 wollte er den Vergleich nicht gestatten. Auch wenn es heute genauso ausländische Kriegsfans gab, die in Scharen nach Kiew strömten, um bei der großen Schlacht dabei zu sein. Denn dieser Vergleich war der vielleicht schrecklichste, denn die folgenden zehn Jahre hatten doch versprochen, sich Nie Wieder zu wiederholen.
Nein, der Brillenträger wollte das alles mit überhaupt gar keinem Krieg vergleichen müssen. Aber das konnte er jetzt nicht mehr entscheiden. Die Bilder, Worte und Sätze waren eindeutig und unmissverständlich: Der Status Quo der nahen Zukunft hieß: Krieg in Europa.

Für diesen Sonntag hatten sich die drei immer noch unentdeckten Zeitenspringer nicht für einen Ausflug nach 1922 verabreden können. Der Buchträger war positiv getestet worden und stand noch einige Tage unter Quarantäne. Und auch Karoline Salthusser machte irgendwie den Eindruck, dass ihr diese Sprünge allmählich zu sehr zur Routine verkamen. Sie wich dem Drängen der beiden immer wieder geschickt aus. Lieber wollte sie ihre Freunde zu einem kleinen Frühlingsspaziergang durch den Brühl einladen. Die Luft war zwar noch schneidend kalt, dafür aber so klar und rein, wie sie es nur Anfang März ist.

Die Zeit bis zum Nachmittag vertrieben sich der Buch- und der Brillenträger damit, sich gegenseitig über die neuesten Entwicklungen in der Ukraine zu unterrichten, wie so viele es in diesen Tagen taten. Die Kommentare, Links und Memes lenkten sie von ihrer Angst ab und befeuerten sie gleichzeitig. Das Paradox des Informationszeitalters.
„Das schon gesehen?“ Auf dem Bildschirm des Buchträgers erschien ein zweigeteiltes Bild. Links war eine wie in Trance applaudierende EU-Kommissionspräsidentin zu sehen. Rechts die Flagge des ukrainischen Asow-Batallions vor den Trümmern von Mariupol.
„Nee, krass. Warte, hier, kennste das schon?“ Der Brillenträger tippte auf das nächste Meme, diesmal dreigeteilt: Links Festnahmen bei Friedensdemonstrationen in Russland, in der Mitte der ukrainische Präsident, wie er im Dezember des letzten Jahres den Orden „Held der Nation“ einem führenden Mitglied des „Rechten Sektors“ verleiht; einer paramilitärischen Einheit, die ebenfalls in diesen Minuten die Hafenstadt am Aswoschen Meer verteidigte. Und rechts dann eine Aufnahme von der Friedensdemonstration am letzten Wochenende in Berlin; im Vordergrund ein selbstgemaltes Plakat, auf dem die Bombardierung von Moskau gefordert wurde.
„Krass. Warte, eins hab ich noch.“ Der Buchträger starrte auf ein weiteres Meme, diesmal wieder zweigeteilt. Auf der einen Seite ein Kurvendiagramm, das die Kursverluste des Rubels und die Gewinne der Rüstungsindustrie in der letzten Woche übereinanderlegte. Auf der anderen Seite das Bild einer völlig zerschossenen Schule irgendwo in der Ostukraine.
„Auch krass. Ok, ein letztes, mir kommt grad die Galle hoch, wir sollten aufhören. Zuviel Zynismus macht krumme Finger.“ Der Brillenträger schaute fassungslos auf ein kurzes Video mit Untertiteln. Offensichtlich schmierten tschetschenische Söldner ihre Gewehrpatronen mit Schweinefett ein. Er las: „Nur für die muslimischen Soldaten.“
Er tippte schnell, vertippte sich oft: „Das macht doch alles keinen Sinn!“
„Wem sagst du das, Sherlock. Aber weißt du, was Sinn macht? Das hier.“
Aus dem Handy des Brillenträgers klangen die ersten Töne eines irgendwie bekannten Marsches. Er summte sofort instinktiv mit. Aus irgendeinem Grund hörte er seine Mutter ganz hinten in seinem Kopf irgendetwas vom Oktoberklub erzählen.

 

„Es weiß, wer schmiedet und wer webt,
es weiß, wer ackert und wer sät –
ein jedes Volk die Wahrheit sieht:
Meinst du, die Russen woll’n,
meinst du, die Russen woll’n,
meinst du, die Russen wollen Krieg?“

(Jewgeni A. Jewtuschenko. 1961)

 

 

„Sag mal, für wann waren wir heute Nachmittag eigentlich verabredet?“
„Ich denke so zu um drei.“
„Und wo nochmal?“
„Karoline schrieb vom Platz des Friedens.“
„Klar, was frag ich überhaupt. Dann bis später, ja?“
„Alles klar. Warte, ein allerletztes noch.“ Auf dem Handy des Brillenträgers erschien ein Foto, auf dem Wladimir Putin und die französische Präsidentschaftskandidatin Marine LePen zu sehen waren, lächelnd und Hände schüttelnd. Darunter die Information, dass ihre Partei erst kürzlich Millionen von Wahlflyern vernichtet hatte, eben weil dieses Bild darauf abgedruckt war.
„Ich dachte, das war wegen eines Rechtschreibfehlers passiert?“
„Ja klar! Die hatten Kriegsverbrecher falsch geschrieben… Bis später dann.“

Der Brillenträger legte sein Handy beiseite und machte auch den Laptop nicht noch einmal an. Mitten in diesem Krieg sollten in wenigen Wochen nun also auch noch die Franzosen über eine neue Regentschaft entscheiden. Wie so oft in der postmodernen Demokratie also die Wahl zwischen schlecht und noch schlechter. Aber neben Putin sahen im Moment alle aus wie die friedlichsten Herrscher*innen aller Zeitalter, selbst Macron, der zwar in bester Lackaffenmanier ständig versuchte, zwischen irgendwem zu vermitteln, aber immer noch ohne Erfolg. Seinen Umfragewerten tat das allerdings sichtbar gut, und Europa schien vorerst eine Nazisorge weniger zu haben. Dann fiel dem Brillenträger aber ein, dass auch in Italien bald wieder zu den Wahlurnen gerufen werden würde. Und da sah es momentan schon düsterer aus. Denn genau 100 Jahre nach dem Beginn des Mussoliniregimes lag in den Umfragen eine Partei mit vorne, die den Namen Mussolini nicht als Makel empfand. Die Führerin der rechten Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) verdankte ihre Popularität unter anderem ihrem Talent zu klaren, volksnahen Aussagen, zu denen eben auch solche zählten: „Ich habe ein entspanntes Verhältnis zum Faschismus, Mussolini ist nun mal eine komplexe Persönlichkeit, die im historischen Kontext gesehen werden muss.“ Das Parteisymbol war also nicht von ungefähr eine grün-weiß-rote Flamme, die in der neofaschistischen Symbolik aus dem Sarg Mussolinis emporsteigt.
Als sich der Brillenträger dann vor lauter Frust und Müdigkeit einen Kaffee aufbrühen wollte, fiel ihm ein, dass er ja seit einer knappen Woche fastete. Auch wenn ihm seine Kolleginnen auch das Medienfasten mal wieder nahegelegt hatten, blieb er vorerst noch bei Kaffee und Fleisch. Nicht mal die Zigaretten konnte er weglassen. Natürlich erschien ihm diese Diät auch irgendwie sinnvoll, aber viel mehr noch kam sie ihm vor, wie eine feige Flucht vor dem permanenten Chock, und zum Fliehen war er mental einfach zu erschöpft, zumal es vor dem Krieg ja kein wirkliches Weglaufen gab, nur relative Sicherheit. Ein Privileg, das mit jedem Tag wertvoller wurde.

Die Sonne hatte sich auch bis zum Nachmittag nicht blicken lassen, und die Hände der drei Freunde begannen schnell blau zu werden, trotz der Tassen voller warmem Tee, den Karoline mitgebracht hatte. Sie saßen auf einer der Bänke auf dem Platz des Friedens und schauten auf die Ruine der ehemaligen Ausflugsgasstätte am Stadtrand. Rechts neben und hinter ihnen standen erst die viereckigen ehemaligen Offiziers- und Funktionärshäuser, die hier von vor dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des Kalten Krieges allen nur möglichen weltanschaulichen Seiten Raum geboten hatten. Hinter und links neben ihnen, die Billung- und die Brühlstraße entlang standen noch größere, viel schickere Villen, die noch älter als hundert Jahre waren. Belle Époque, Nach-Gründerzeit, Kaiserreich.
„Ein schräges Ensemble, findet ihr nicht auch?“
Buch- und Brillenträger seufzten: „Wie sah es hier aus, als diese Nazibunker hier noch nicht gebaut waren? Gab es diesen Platz hier auch schon?“
„Schön, dass ihr fragt! Deswegen habe ich euch heute hierher gelockt.“
Die beiden Männer schauten sich erwartungsvoll an. Der Buchträger platzte heraus: „Wir springen doch? Ich hatte schon gedacht, wir würden eine Pause einlegen.“
Der Brillenträger sagte nur leise: „Ich weiß nicht, ich glaube, mir ist heute irgendwie nicht nach Eskapismus. Kannst du uns nicht lieber nur etwas vorlesen? Irgendwas gutes, von damals. Ich glaube mich zu erinnern, dass es in deinem Buch einige sehr schöne Frühlingsbeschreibungen gibt.“
Als erstes antwortete Karoline dem Buchträger: „Ich muss dich enttäuschen. Das ist heute nicht möglich. Jedenfalls nicht hier in Quedlinburg. Bei Gelegenheit erzähle ich euch dazu vielleicht mehr. Außerdem bist du doch offiziell in Quarantäne! Oder willst du 1922 auch noch anstecken?“ Dann wandte sie sich an den Brillenträger: „Sehr gute Idee. Und genau das hatte ich auch vor.“ Sie kramte aus ihrer Tasche einige Seiten des Manuskripts hervor und breitete sie auch ihrem Schoß aus. Der Buchträger warf einen verstohlenen Blick in die Tasche, um zu sehen, ob sie den Orb nicht wenigstens mitgebracht hatte und setzte gerade zu einem letzten Versuch an, da hatte Karoline bereits begonnen zu lesen:

 

5. und 6. März 1922

Babylon Münzenberg 122 – Oxi

Endlich wird die Luft
wirklich reiner!
Der letzte Rest des Winters
riecht endlich wieder nach echtem Aufbruch!
Die Vögel zwitschern in den Bäumen,
im Brühl suchen die Bussardpaare
einen neuen Platz zum Nisten.
Die Vergangenheit
liegt wohl endlich
weit genug hinter uns.
Die Erinnerungen
an den Krieg verblassen,
die Erinnerungen
an die Spanische Grippe ebenso,
das ist jetzt eben nur
eine Krankheit mehr,
die man nicht haben will.
Ach, würde es nur schon
eine Impfung geben!
Aber darauf können wir wohl noch
bis zum nächsten Krieg warten.

Doch was beschwere ich mich!
Meine Privilegiertheit
ist mir inzwischen richtig ans Herz gewachsen.
Und sollte doch wieder
alles hektischer werden,
gibt es inzwischen
doch Oxykodon.
So heißt es jedenfalls
in den wenigen illegalen Kellerbars,
die es jetzt auch hier gibt.
Diesen Muff und diese Schlagermusik
kann ja aber auch niemand
ohne Schmerzmittel ertragen.

Da lob ich mir doch
die frische Luft des Brühls!
Die Paare und Familien
durchstreifen die erwachsenen Bäume,
Spazierengehen ist wieder
ganz normal geworden.
Und an diesem Wochenende
war endlich auch wieder
die Terrasse der Gaststätte belebt!
Die Sonne hat die Nachmittage
schon auf fast 10°C gewärmt
und sogar die Kapelle
spielte für eine Stunde zum Tanz.
An den Tischen
sitzen die Männer unter sich,
die Mütter spielen
mit den Kindern
auf den Wiesen.

Die Männer trinken Bier
und lesen Zeitung.
Schon gibt es wieder Stammtische,
an denen über Politik diskutiert wird.
Die Salons verlagern sich ins Freie,
und die Themen sind die selben
wie immer:
Revolution,
Demokratie,
Faschismus.
Die Machtfrage wird immer diskutiert,
ganz egal,
ob im Krieg
oder im Frieden.
Und am lautesten
immer wieder von den Faschisten,
von Menschen,
die es für naturgegeben halten,
besser als alle anderen zu sein
und deswegen auch
die Macht an sich reißen.
So wie dieser Mussolini jetzt in Italien.
Es bleibt nur zu hoffen,
dass er diesem Hitler
und seiner NSDAP
nicht ein zu gutes Vorbild ist.
Denn alles was Faschisten wollen,
endet immer nur im Krieg.

Jetzt aber ist Frieden.
Und hoffentlich für immer.
Auf den Dächern der Villen am Brühl
gurren die Tauben,
die Bode rauscht friedlich
wie seit Urzeiten,
und dieses neue Vanilleeis
aus der Brühlgaststätte
ist ein Traum in Weiß.
Danach sollten Plätze benannt werden.

 

Als Karoline geendet hatte, schaute sie sich kurz um, wie um sich zu versichern, dass wenigstens dieser Traum in Erfüllung gegangen war. Der Buchträger stand auf: „Bleibt mal sitzen, ich versuch mal ein Bild von euch zu machen und das Straßenschild mit drauf zu kriegen. Ach, und Karoline, wollen wir vielleicht nicht doch noch kurz, nur eine halbe Stunde?“
Sie sah ihn großmütig an: „Nein. Und denk ja nicht, dass ich nicht mitbekommen hätte, wie du nach dem Orb geschielt hast. Ich sage es noch einmal in aller Deutlichkeit: Keine Alleingänge!“
„Aber …“
„Nichts aber! Wenn ich alleine springe, dann hat das nun mal seine Gründe, das wisst ihr. Es tut mir leid, dass ich euch darüber immer noch nichts sagen kann, aber so ist es nun einmal.“
Der Buchträger gab endlich nach und suchte sich eine geeignete Position für das geplante Bild. Später waren der Brillenträger und Karoline darauf zu sehen, wie sich, zum Straßenschild empor schauend, mit ihren Teetassen zuprosteten.

Einige Tage später rief ihn Karoline am späteren Abend unerwartet an. Sie fragte ihn, ob er wüsste, wo der Orb sei. Auf seine entsetzte Nachfrage, wo sie ihn denn zuletzt gesehen hatte, antwortete sie, dass sie ihn seit ihrem Treffen nicht aus der Tasche genommen hatte, und dass diese sicher im Laden gestanden hatte. Aber der Buchträger war bereits seit Stunden nicht mehr an sein Telefon gegangen, und als sie ihn dann im Laden aufsuchen wollte, waren weder er noch Orb aufzufinden.
Als der Brillenträger eine halbe Stunde später auch im Laden ankam, stand der Buchträger jedoch vor ihm wie ein begossener Pudel und hinter ihm stand Karoline, mit verschränkten Armen. Zeiten ändern sich.

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