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„It’s making me tense
what you’re telling me.
A series of facts
that don’t compute the classic way.
I guess I’m wrong again anyway.
I’m a fire
and I’ll burn
burn
burn
tonight.“

(Biffy Clyro: Who’s got a match? 2007.)

 

Dreißig Jahre und einen Weltkrieg hatte es gedauert, bis Thale, nach Erstantrag und zähem Behördenknatsch, endlich das Stadtrecht zugesprochen bekam. 4.000 Menschen der Landgemeinde arbeiteten da bereits auf der Hütte, tausende weitere in den Steinbrüchen, im Bergbau, den Sägewerken, den metallverarbeitenden Industrien. Und Thale war auch noch Luftkurort und Touristenattraktion für die Berliner Bourgoisie.
„Am 11. September 1922 berichtet das Tageblatt von der Ankunft der geladenen Gästeschar, der Ausschmückung von Bahnhof und dem Festsaal des mit der neuen Reichsflagge und der Preußenfahne dekorierten Kreiswohlfahrtsgebäude (ehemals Hotel Zehnpfund).“

Und exakt 100 Jahre später blätterte der Brillenträger am Küchentisch das Thalenser Amtsblatt, den „Thalekurier“, durch und verschaffte sich so nebenbei mal etwas mehr Heimatgefühle. Auf immerhin einer ganzen Doppelseite wurde hier beschrieben, wie das damals alles so war. Mit kolorierten Fotografien vom Hexentanzplatz und Eisenhüttenwerk, der Abbildung eines der berüchtigten „Gutscheine“, fotokopierten Zeitungsartikeln und einem, in sepia gehaltenen Hintergrundbild: Das Bodetal. Zu seiner Verwunderung war auf den übrigen Seiten des Kuriers die an diesem Wochenende stattfindende Jubiläumsfeier mit keinem Wort erwähnt, und das obwohl der Kurier sonst nicht sparsam war mit Crosspromotion. Was genau die Kulturabteilung sich überlegt hatte, sollte also ein Geheimnis bleiben. Die Menschen sollten anscheinend einfach kommen, statt vorher schon zu wissen, was sie erwartete.

Am Mittwoch noch konnte niemand genau sagen, ob es denn überhaupt ein Festwochenende geben würde. An genau dem Tag, als für den brennenden Brocken Entwarnung gegeben wurde, wurde Thale von einem Unwetter heimgesucht, das es so in den letzten hundert Jahren eher selten gegeben hatte. Eine Gewitterfront hatte sich genau über dem Harzrand am Bodetal entladen. Sämtliche Bäche schwollen in Minuten zu reißenden Flüssen an, am Ausgang des Steinbachtals sammelte sich eine Schlammlawine, die „Waldwiese“ war zu einem See geworden, der Hagel zerstörte große Teile der ungeschützten Pflanzen in den Schrebergärten und hinterließ ungezählte Beulen in allen Arten von Blech, während der Brillenträger die Videos davon auf seinem neuen Aluminium-Notebook bestaunte, und vor seinem Fenster ein wunderschön klingender Platzregen niederging.
Freitag dann aber, als ob nichts passiert war: 100 Jahre Thale! Das Festwochenende wurde planmäßig eröffnet. Mit Techno im „Kaffeeloch“, von dem die ganze Stadt bis nachts um zwei noch was hatte. Allet wat Jutet! Auf die nächsten 100! An diesem Abend ging der Brillenträger früh ins Bett, das Wochenende wollte ereignisreich werden.

Am Samstag gegen Mittag saß der Brillenträger allerdings zunächst im Schatten an einer Mauer rechts neben der Bodelandhalle im Quedlinburger Rambergsweg. Von drinnen tönte Kinder- und Erwachsenengeschrei, ständige Pfiffe aus Schiedsrichterpfeifen, Sirenensound und Jubel. In den Bäumen um ihn herum zwitscherten ganz leise ein paar Spatzen.
Das Zillibiller-Paetzmann-Gedächtnisturnier, das inzwischen fest zur Tradition gewordene Basketballspektakel vor Saisonbeginn der Quedlinburger Panthers hatte pünktlichst um neun Uhr begonnen. Bereits um acht war alles vorbereitet gewesen, die Bänke ausgerichtet, die Anschreibepulte mit Papier, Stift und Anzeigetafeln versehen, die Ballkörbe schon nur noch halbvoll. Alle freuten sich, endlich wieder (vorübergehend) ganz normal nach Plan arbeiten und spielen zu können. Organisation + Disziplin – Pandemie = Fun! Auf den Rängen fieberten Eltern und Geschwister, Großeltern und Freunde mit. Auf den drei Feldern flitzten die Spieler*innen hin und her. Feld 1: U12. Die Altersklasse, wo die größten auf dem Feld die Mädchen sind. Der Brillenträger und seine Kollegin, die ehemalige Erstligaspielerin aus dem Iran, gaben sich alle Mühe, die vielen Schrittfehler zu übersehen, griffen bei den Fouls aber bereits streng durch. Keeping it real. Feld 2: U14. Schon hitziger. Und ohne Mädchen. Problem: Hier denken die meisten bereits, sie hätten das Spiel verstanden. Haben aber erst die wenigsten. Der Brillenträger und sein Kollege, so unerfahren, wie sich der Brillenträger selbst auch noch fühlte, hatten ihre liebe Mühe, den Spielfluss nicht völlig zerstören zu müssen. Bei den Fouls blieb die Linie klar: Noch im ersten Viertel ging der erste mit zu vielen davon und hängendem Kopf vom Feld. Feld 3: U16. Teenager-Testosteron-Overkill. Posen wie die Superstars, Trefferquote unter 30%, egal von wo, wie sich das für dieses Alter gehört. Da ist dann auch schon mal mehr Feuer drin. Der Brillenträger hatte da aber schon seine lange Pause (vier Stunden warten) begonnen. Das letzte Spiel auf Feld 3 gewannen die Halberstädter. Mit einem Dagger von der Dreierlinie in der letzten Spielminute, den Luca Doncic auch nicht anders gemacht hätte. Flexen erlaubt.
Nachdem der Brillenträger die ersten Stunden des Turniers jetzt hinter sich gebracht hatte, konnte er sich, immer noch an der Mauer im Schatten sitzend, für ein paar Momente den Erinnerungen an sein eigenes Sportlerleben hingeben. Daran, wie es begonnen hatte, gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Und daran, wie es seinen Höhepunkt erreicht hatte, ganz zu Beginn des neuen. Bald juckte es ihn dabei in den Fingern, diese Geschichte als Superheldenstory zu schreiben, mit eben genau der nötigen Portion parodierter Selbstglorifizierung, die von je her als Standard in der Literatur von Männern galt, die der Meinung waren, dass ihre Lebensgeschichte irgendwie erzählenswert sei. Er hatte auch bereits einen Namen für sein heldenhaftes Alter-Ego: „Der Stählerne Thalenser“: Ein von Kindesbeinen an notorischer Moralprediger, der mit provinziellem Charme und seinem MacBookAir aus valyrischem Stahl (undercover) die Bösen aus dem Spiel nimmt, und das nicht etwa metaphorisch, sondern so richtig, mit Skills und Funky Moves; ein viertel Zirkusakrobat, ein viertel Ninja, ein viertel Kobe, ein viertel Nerd.
Aber eigentlich hatte er für solche Spielchen keine Zeit. Die nächste Episode seiner strangen Serie wartete auf seinem neuen Aluminium-Notebook darauf, endlich fertig geschmiedet zu werden; #DieDoppeltenZwanziger hatten schon lange wieder vergessen, was eine Pause war.

 

 

11. September (Stand: Samstag Mittag)

 

S7:Ep14(u) – The Queen is dead, boys

 

– Sue Bird spielt nicht mehr

Krise 1:
– Krach im Bundestag
Wer hat Schuld an der Energiekrise?
Was ist jetzt mit den AKWs?
Merz, Wagenknecht, Weidel
vs.
Scholz und Habeck
Auch bloß wieder nicht mehr als Politik
– EZB will Zinsmoneten sehen (Rekorderhöhung des Leitzins)
– Schottland friert die Mietpreise ein (Calling London?)
– Städtebund warnt vor Stromausfällen im Winter
– „Bürgergeld“ = 502 Euro

Krise 2:
– „Oder sollten wir ihn (den Brocken) brennen lassen?“
7 Tage Katastrophenfall vorbei
Jugendfeuerwehren platzen aus allen Nähten?
Fünf entscheidende Triggerpunkte bereits erreicht?

Krieg:
– Region um Charkiw wird „zurückerobert“ bzw. „aufgegeben“

Krise 3:
– Achte Covidwelle zieht an
Prof. Drosten warnt
-Katastrophenfall in New York (Polio)

State of the Times:
– Lizzy’s gone for good
Long live Princess Lilibet, long live King Charles III
Wahnwitzige Nachruforgie
Das 20. Jahrhundert
(zumindest in der zweiten Hälfte: das „Goldene“)
endgültig reif
für die Geschichtsbücher
in den Funken der neuen Stahlgewitter!?
– Eskapismus oder Realität? – on yet another Level!
Betterovs Debutalbum soll wohl auch davon handeln…

 

Der Brillenträger aber ließ den Schmiedehammer liegen, der Amboss sollte heute kalt bleiben. Nostalgie ließ sich nicht ewig aufschieben. Erinnerungsmedaillen wollten gewonnen werden.
So richtig angefangen hatte jedenfalls auch alles hier, in Quedlinburg. Nur wenige Jahre vor der „Wende“ war der Brillenträger der beste Bodenturner seiner Altersklasse im ganzen Kreis. Spagat, Briefmarke, Rolle vorwärts, Rolle rückwärts, Rad schlagen. Alles kein Problem mit der damaligen Gelenkigkeit. An den anderen Turngeräten waren die meisten anderen besser als er. Mehr Muckies. Sein Verein, die Kaderschmiede des Thalenser Hüttenwerks, der SV Stahl Thale, gewann in diesen Jahren ausnahmslos die Kreisjugendturnspartaktiaden in der altehrwürdigen Turnhalle hier im Steinweg. Goldmedaillen für die Mannschaften waren die Regel, und der Brillenträger selbst sammelte fleißig Silber und Bronze.
Im letzten Sommer der 80er, nur wenige Monate bevor er seinen ersten Flikflak hätte turnen können sollen, gab es dann plötzlich keinen Jugendleistungssport mehr in Thale, zumindest nicht in der Turnsparte. Die Hütte war abgewickelt worden, 7.000 Thalenser*innen hatten ihre Arbeit beinahe über Nacht verloren, mussten sich umorientieren, da blieb keine Zeit mehr für die turnende Jugend: Die Trainer legten den Jungen traurig die Hand auf die Schultern. Zeiten änderten sich.
Danach versuchte er es mit Fußball (zu prollig), mit Judo (verliebt in die Trainerin), und sogar kurz mit Leichtathletik (zu langweilig), bevor er sich im Sommer 1992, wie so viele mit ihm, in ein Spiel verliebte, das damals von einem Übermenschen beherrscht wurde: Michael Jordan. Das Dream Team hatte nicht nur die Olympischen Spiele von Barcelona verzaubert, sondern auch ihn. Der Brillenträger ging all in: Zum Training so oft es nur ging, auch wenn das hieß, nur bei den Großen zuzuschauen. Auch seine NBA-Leidenschaft nahm in diesen Monaten seinen Anfang mit Trading Crads und dem Anschauen eines jeden Schnipsels Spielszene, den die Privatsender übertrugen. Sein erstes Jersey war das blaue von Penny Hardaway.
Es folgten scheinbar endlose Jahre auf den Freiplätzen, sommers wie winters. Der Brillenträger wurde Streetballer mit Regelkenntnis, mit Killer-Crossover und vier Augen für die No-Look-Pässe. Und aus Fanta und Sprite wurden Dosenbier und Zigaretten. Bei den Kreisligaspielen der Herren ging es immer zur Sache. Auf der Tribüne wurde bekanntgemacht, dass alle wüssten wo der Schiri sein Auto stehen hat, die wenigsten Gäste kamen wirklich gerne nach Thale; achtzehnjährige Hitzköpfe, späte Baseballschlägerjahre. Und die Erzrivalen hießen Guts-Muths Quedlinburg.
Den größeren Teil seiner Spielzeit verbrachte der Brillenträger dabei auf der Bank. Backup vom Backup vom Starting Point Guard. Schnell, cocky, Basketball-IQ off the charts, aber keine nennenswerte Quote. Aber dann kam die erste und einzige Landesligasaison für den Basketball in Thale. Nach einem fulminanten Aufstieg im vergangenen Jahr, bei dem sogar das Derby in der Auswärtshalle gewonnen wurde, fand sich die Mannschaft mit der Realität der höheren Liga konfrontiert: Jedes Spiel ging verloren. Deutlich. Bis auf ein einziges. Vorbei waren die Zeiten, als es im Huddle zu Spielbeginn noch „Kaaaaaaaarls … Kwell!“ hieß.“ An dem Tag, als der Gegner in Thale Magdeburg hieß, als die halbe Mannschaft und fast die gesamte Starting Five krank oder verletzt war, als niemand mit einem Wunder rechnen konnte, und der Brillenträger heißlief, hieß der Schlachtruf: „Stahl! Feuer!“ Endlich in der Startaufstellung. Endlich jedes Mal den Ball bringen. Endlich sein Spiel spielen. Vom Underdog zum Held des Tages, in 40 Minuten effektiver Spielzeit. Der Brillenträger wusste seine Statline immer noch auswendig: 26 Punkte, 6 Assists, 3 Rebounds, 3 Steals, 5 Fouls, 3 Turnover, 6 Dreier, und der Sieg. Vom Bankwärmer zum Teamleader, und war es auch nur für einen Tag. Und die beste Nostalgie konzentriert sich nur auf die Höhepunkte. Die Basketballabteilung des SV Stahl Thale gab es danach nur noch wenige Jahre: Talente wurden erwachsen, zogen in die Welt, dem Nachwuchs wurde Fußball wieder wichtiger.

Gegen halb zwei begann der Rücken des Brillenträgers an der Mauer neben der Bodelandhalle zu ziehen. Der Himmel hatte sich auch etwas zugezogen, der Regen wartete in dicken grauen Wolken über dem Hallendach. Drinnen war gerade die Siegerehrung, die Stimme des Vereinsvorsitzenden der Panthers hallte durch die geöffnete Hintertür: „Herzlichen Dank auch noch mal an die Schiedsrichter!“ In zwei Stunden erst hatte der Brillenträger sein nächstes und letztes Spiel des Tages zu pfeifen. U17. Teilweise bereits Landesauswahl. Die Youngs Baskets Harz gegen Halle. Ein brutaler Kantersieg. Und schon fast so etwas ähnliches wie richtiger Basketball.

Nur wenige Minuten nach dieser Pflichterfüllung, die sich so nicht angefühlt hatte, stand der Brillenträger für einen kurzen Moment gefrustet am Bahnhof in Quedlinburg, auf dem es schon seit Wochen wieder nicht voran zu gehen schien. Der Zug, mit dem er gerade nach Thale fahren wollte, um sich mit dem kleinen Sohn der Rucksackträgerin und dessen „Tante“, die gerade erst aus Indonesien zurückgekommen war, auf dem Stadtfest den Magen vollzuschlagen, fiel wegen akuten Krankheitsfällen beim Zugpersonal ersatzlos aus; wie so oft. Nur die stählerne Dampflok der HBS stand auf dem Nebengleis zur Abfahrt bereit. „Mondscheinfahrt“ auf den Brocken.
Ein kurzes Telefonat und ein paar Autokilometer später hatten sie dann aber doch zueinander gefunden, parkten am oberen Ende des Kur-/Friedensparks, kurz vor St. Petri Kirche, und stürzten sich pünktlich zur Abendbrotszeit ins noch übersichtliche Getümmel. Noch bevor sie aber die DJ-Bühne im Kaffeeloch (aka „Kult(o)urbühne“) und die zahlreichen Futterstände erreichten, blickten sie erstaunt in den Himmel. Der ABC-Schütze zwischen dem Brillenträger und seiner Tante legte den Kopf mit großen Augen in den Nacken. Soetwas wie ein riesiger Funkmast ragte zwischen den Bäumen hervor. Ihm gegenüber ein nur unwesentlich niedrigerer Stahlaufbau. Dazwischen waren dicke Seile gespannt, aller Wahrscheinlichkeit nach auch aus Stahl. Im Hintergrund die Thalenser Seilbahn über dem Bodetal vor der untergehenden Sonne. Der Brillenträger kannte diesen Anblick. Als er selber nicht älter als der Junge neben ihm gewesen war, war diese Sensation regelmäßig in Thale zu sehen gewesen: Die Familie Weisheit. Inzwischen offensichtlich in der fünften Generation. Hochseilartistik mit Enduromaschinen. Motorräder in zwanzig Metern Höhe über den Köpfen der Festbesucher. Die heutige Vorstellung fand ihren vorzeitigen Höhepunkt mit einem Trompetensolo von Natalia Weisheit.Amazing Grace“ in 62 Metern Höhe. Der Mast, der also doch kein Funkmast war, schwankte dabei im Herbstwind und wurde von der Moderation, wahrscheinlich augenzwinkernd „Stahlpeitsche“ genannt. Einige der umstehenden Erwachsenen kicherten jedenfalls so, dass ihre Kinder nichts davon mitbekommen sollten.
Während der ABC-Schütze kurze Zeit später beim Entenangeln für seinen mit Mama zu Hause gebliebenen, jüngeren Bruder einen Edelstein gewann, war der Brillenträger unterwegs, um auch Geld unter die Händler zu bringen. Die Schlangen vor den Buden waren inzwischen länger geworden, die vor den Toiletten bereits abschreckend. Für einen Euro weniger als auf den diesjährigen Festivals bekam er zwei Mojitos, die ihrem Namen mehr als gerecht wurden, beinahe schon zu gut gemeint.
Er fand seine beiden Begleiter an einer der Biergarnituren vor der Bühne im Kaffeeloch. Der Sohn der Rucksackträgerin konnte seinen Blick nicht von der Bühne wenden. Zwei Mädchen, kaum älter als er selbst, tanzten den noch sitzenden Erwachsenen selbstbewusst etwas vor. Die Musik war grauenhaft, die Anlage hatte aber einen ordentlichen Sound, und die Stadtjugend, auch die in die Jahre gekommene, sang bereits ausgelassen mit. Lange hielt es den Jungen nicht an seinem Platz, seine Tante und der Brillenträger brauchten ihm nur wenig Mut zuzusprechen, ach wo, keiner würde ihn auslachen; und weg war er. Bei den Zurückgeblieben ging es nur wenig später ohne Umschweife um die ernsten Themen, wie es bei jahrzehntelange Freunden nun mal so ist. Vielleicht brauchte es die ausgelassene Stimmung um sie herum, um über die tragischen Ereignisse des letzten halben Jahres in ihrem gemeinsamen Freundeskreis zu reden, vielleicht trug der Mojito auch seinen Teil dazu bei. Wie seltsam grausam doch die Welt ist. Alles geschieht immer gleichzeitig. Ein lachendes Kindergesicht auf einem Stadtfest, die Geburt eines Sternenkindes, ein Strick voller Lebensmüdigkeit an einem Ast auf der Waldwiese, vor Lebenslust strotzende Teenager beim abendlichen Partymachen im Stadtpark.
Nach einem kurzen Abstecher zur Guinessbühne, auf der folkoristisch und angestrengt witzig zum weiteren Trinken animiert wurde, traten die drei dann den Rückzug an, die Rucksackträgerin erwartete sie bereits. Sie gingen noch kurz an einem der Stände vorbei, die der ABC-Schütze morgen noch einmal besuchen wollte, denn er hatte einen „krassen“ Anhänger gefunden, und sein Taschengeld saß locker. Der Brillenträger brauchte nicht lange unter den ausgestellten Schmuckstücken suchen, bis er eine Schwarze Sonne fand, einen Wotansknoten. Er schluckte seinen Ärger aber schnell wieder runter. Kultur hat eben auch ihre Schattenseiten. Und heute war nicht der Tag, um sich darüber zu empören. Oder Faschoanhänger zu kaufen. Die Rucksackträgerin empfing die drei zu Hause mit Süßigkeiten und einem Glas Wein, ihr jüngerer Sohn und sie hatten gerade Ice-Age zu Ende geschaut. Hier gab es schon lange kein Eis mehr, das gebrochen werden musste.

Am Sonntag Mittag dann radelte der Brillenträger bei leichtem Nieselregen wieder zurück ins Weltkulturerbe. Er hatte seine Mutter, sein Schwesterherz und ihren Freund besucht und nach dem Frühstück gemeinsam mit ihnen um die zerstörten Blumen und Kürbisse im Garten getrauert. Als die Stadtglocken gerade zwölf schlugen, rollte er von der Steinbrücke auf den Markt. Und was war das? Auch hier, wohin man nur hörte und schaute: Kultur. Kultur. Und nochmal Kultur: Der Tag des offenen Denkmals. Den hatte er, wie jedes Jahr, wieder ganz vergessen. Die Sonne stahl sich bereits wieder durch die dicken Wolken, die Besucher drängten sich in den Cafés, und von der Bühne vor dem Rathaus hallte ihm eine immer seltsamer vertraute Melodie, gesungen von einer noch vertrauteren Stimme entgegen: „And if I only could …“.

Zur Kaffeezeit war der Himmel über Quedlinburg wieder strahlend blau, und die letzten Besucher schlichen durch die dunklen Denkmäler der Stadt. Der Brillenträger saß wieder am Schreibtisch, machte einen Haken an die nächste Ungeschriebene Episode seines Literaturexperiments und schenkte sich zur Feier des Feiertages, ach, des Feierwochenendes, einen seiner besseren Whiskys ein. Dann prostete er sich mit dem Singleton selber zu: Hundert Jahre Stadtrecht! 1.100 Jahre Weltkulturerbe! Und inzwischen ganz genau 1.000 Seiten #DieDoppeltenZwanziger. Cheers!
Dann klappte er sein Notebook zu und machte es sich auf der Couch bequem. Bei Disney+ lief seit gestern die Neuverfilmung von Pinocchio. Noch so eine Geschichte über die abenteuerliche Selbstwerdung. Davon, wie aus einem kleinen Jungen ein echter Mensch wird. Nur irgendwie leichter. Weil ohne Stahl. Und ohne Feuer.

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