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Versöhnung (Jerusalem, vor genau einem Jahr)

von | 2020 | 9. Oktober | Die Kurzgeschichten, Quedlinburger Kurzgeschichten, Staffel 3 - Cope

Inzwischen war der Brillenträger vollends in die Stadt eingetaucht. Über die letzte knappe Woche hatte er die Stadt verstehen gelernt. Und sich dann beinahe hoffnungslos verlaufen. Die heutigen Bewohner der antiken Davidstadt, zu Füßen der Südmauer der Altstadt von Jerusalem, lachten ihm hinterher, als er aus der Sackgasse zurückkehrte, an dessen Ende nur noch die unzähligen Katzen vorwärts gekommen waren. „Jalla, Americano! Jalla!“ Er konnte ihren Spott gut verstehen und lachte schulterzuckend zurück, wobei er sich nicht ganz sicher war, ob als Americano bezeichnet zu werden, etwas gutes oder schlechtes bedeutete.
Nach seinem Besuch auf dem Ölberg hatte er nun das Südtor der imposanten Stadtmauer erreicht. Die Menschen drängten sich nach innen. Touristen, Pilger, Bewohner. Jom Kippur fiel in diesem Jahr auf den 9. Oktober. Es hatte bereits den ersten Regen des noch so jungen Jahres an der östlichen Mittelmeerküste gegeben, ein weiteres Geschenk, das ihnen diese, bereits in diesem Moment unvergessliche Reise gemacht hatte. Die Stadt summte, immer gerade so unter der Wahrnehmungsschwelle. Sie summte vor Freude über den Frieden, der hier so selten ist. Nur an der Klagemauer wurde gesungen und getanzt.

Der Brillenträger hatte die anderen jetzt am Davidsturm entdeckt. Sie waren später aus dem Hostel aufgebrochen, am letzten Abend wollten sie gerne ausgeruht sein, die morgige Rückreise würde anstrengend genug werden. Als er auf sie zuging, bemerkte er, dass sie sich in einem Gespräch mit einer ihm unbekannten Frau befanden. Noch in einigen Metern Entfernung war die gereizte Stimmung schon zu spüren. Die Frau schien zu schimpfen. Die anderen winkten den Brillenträger heran.
„You are all murderers!“
Beinahe zu spät begriff er die Situation. Die Frau vor ihm war schätzungsweise um die 70 Jahre alt, aber in voller Rage. Sie musste uns an unserer Sprache erkannt haben, an diesem heiseren Hundegebell; so jedenfalls stellte sich der Brillenträger den Klang seiner Muttersprache in den Ohren anderer Muttersprachler vor. Er schaute sie fragend an, und sie wiederholte ihr Urteil. Er zeigte auf sich und die anderen: „You mean, like, we are murderers?“
„Yes, it runs in your fuckin‘ genes!“ Unter weiteren Flüchen wandte sie sich zum Gehen. Der Brillenträger stellte erschrocken fest, dass er wohl einen Schritt auf sie zugemacht hatte, die anderen hatten schon begonnen, ihn zurückhalten zu wollen. Er machte drei Schritte zurück. Er verstand. Und er verstand nicht. Heute? Am Versöhnungstag? Ja, wann denn sonst? Auge um Auge, Zahn um Zahn. Nie wieder!

Er brauchte den ganzen Rückweg zum Hostel, um sich wieder zu sortieren, zu beruhigen. Und irgendwie fühlte sich das Erlebnis auch richtig an, wenn schon nicht gut. Die Schuldfrage ist immer unangenehm, besonders wenn die Antwort so eindeutig ist. Der Brillenträger war froh, schon zwei Generationen vom Zivilisationsbruch entfernt zu sein. Der berechtigte Hass traf ihn schon nicht mehr so hart. Die Flüche der Frau würden es schwer haben, an ihnen haften zu bleiben.
Trotzdem ruhten sie sich vor dem letzten Abendbrot noch etwas aus. Einige streckten sich auf ihrem Bett und schlossen die Augen für ein halbes Stündchen. Der Brillenträger sortierte derweil Fotos von der Speicherkarte und machte sich kurze Notizen im Reisetagebuch. Dann nahm er sein Handy zur Hand.
Rummms. Facebook, Guardian, Tagesschau, New York Times; alle mit der gleichen Meldung: Halle (Saale). Er konnte nicht lange still bleiben. Er sollte den Tag nicht noch weiter beschweren, und er wollte nicht wie so oft der Überbringer schlechter Nachrichten sein. Die Brillenträgerin, die ihre Brille ungern trägt, spürte seine Ungeduld: „Was ist denn?“ Er hielt ihr das Handy hin. Die abenteuerlichste Reise ihres bisherigen Lebens war soeben auf die brutalste Weise mit dem öffentlichen Gedenken verknüpft worden: „Die Synagoge in Halle wurde angegegriffen, gerade eben.“
Die anderen waren sofort hellwach. „Was?!“
„Ja“, der Brillenträger las vor. Allen fehlten die Worte.
Innerhalb der nächsten Stunden überschlugen sich die Nachrichten. Ein beinah schon therapeutischer Prozess. Verfolgungsjagd, Schießerei. Vorher schon zwei Tote. Granaten auf den Friedhof geworfen. Aber die Tür hat gehalten, die Tür hat gehalten. Dann endlich: Festnahme. Motiv: Antisemitismus. Geplant und live gesendet. Utøya, Christchurch, und jetzt Halle.
Der Brillenträger verstand die Unversöhnlichkeit der Frau vom Nachmittag jetzt nicht mehr nur. Seit diesem Tag teilt er sie uneingeschränkt.

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